Das Wort Hartz IV gilt inzwischen als Synonym eines gescheiterten Sozialsystems. Der aktuelle Zustand ist in der Tat paradox. Einerseits wird es im Zuge des digitalen Wandels immer einfacher, eine Erwerbstätigkeit zu finden. Über entsprechende Plattformen wird man praktisch per Klick zum Verkäufer, Vermieter, Designer oder Entwickler. Auf der anderen Seite jedoch fährt die Politik immer härtere Bandagen auf, um die scheinbar arbeitsunwillige Bevölkerung zum Arbeiten zu zwingen. In einem anekdotischen Fall trägt ein Teenager Zeitungen aus, um das Familieneinkommen aufzubessern. Kurz darauf kürzt der Staat die ALG-Zuschüsse für den Vater in gleicher Höhe. Die Motivation zur Arbeit ist auf Dauer zerstört. Aber handelt es sich hierbei um einen Einzelfall, oder hat das System? Dieser Artikel macht eine Bestandsaufnahme.
Was bleibt von einem Euro?
Die nachfolgende Analyse beschäftigt sich mit dem hypothetischen Fall, dass ein Arbeitnehmer zu seinem bisherigen Einkommen einen Euro zusätzlich verdient. Die Frage lautet dabei: Welcher Anteil dieses Euros bleibt im System hängen und welcher Anteil steht dem Arbeitnehmer zusätzlich zur freien Verfügung?
Die nächste Grafik beantwortet diese Frage und widerlegt das Märchen vom progressiven Steuersatz. Abhängig vom aktuellen Einkommen auf der X-Achse zeigt sich der abzugebende Anteil auf der Y-Achse. Grob zusammengefasst, ergibt sich dabei folgendes Bild: Für Geringverdiener wird ein zusätzlicher Euro zu über 80% durch die Verringerung des Arbeitslosengeldes kompensiert. Im mittleren Einkommenssegment halten sich Sozialabgaben und Einkommenssteuer die Waage und schöpfen zwischen 43% und 63% ab. Bei hohen Einkommen werden nominell etwa 47% abgegriffen. Die Befreiung von der Sozialversicherung und eine unübersichtliche Liste an Abschreibungsmöglichkeiten führt aber oft dazu, dass die tatsächliche Steuerbelastung weit darunter liegt.
Abzüge im Detail
Bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes folgt die obige Berechnung einem Beispiel auf Wikipedia. Dabei wird von einem Single ohne Vermögen und ohne Kinder ausgegangen. Bei angerechneten Mietkosten von 300€ wird der Arbeitnehmer bis zu einem Bruttoeinkommen von etwa 1325€ unterstützt. Je nach Lebenssituation kann diese Grenze aber etwas höher oder niedriger liegen. Fest steht, dass ab einem Monatseinkommen von 100€ nur 20% beim Arbeitnehmer im Geldbeutel landen. Ab einem Einkommen von 1200€ sinkt der verbleibende Anteil auf 0%.
Zusätzlich zum ALG II zahlt der Staat zahlreiche Transferleistungen. Laut Ex-Minister Niebel werden 153 verschiedene Leistungen von 44 verschiedenen Behörden ausgezahlt. Dazu gehören z.B. BAföG, Elterngeld, Kindergeld, Wohngeld und viele andere. Darüber hinaus gibt es für Geringverdiener zahlreiche Sparmöglichkeiten, wie GEZ- Befreiung, verbilligte ÖPNV -Tickets oder vergünstigte Eintritte. Auch wenn diese Leistungen nicht nur am Einkommen hängen, so ist doch klar: Mit jedem zusätzlich verdienten Euro wird die ein oder andere Vergünstigung reduziert oder fällt ganz weg.
Ab einem monatlichen Verdienst von 450€ wird ein Beitrag zur Sozialversicherung fällig. Der Arbeitnehmeranteil beträgt derzeit etwa 18%. Durch die Beitragsbemessungsgrenzen fällt der relative Anteil am Lohn jedoch mit steigendem Einkommen. Oftmals werden Spitzenverdiener auch vollständig von der Sozialversicherungspflicht befreit und können noch günstiger vorsorgen.
Die Einkommenssteuer ist für sich genommen progressiv. Tatsächlich können sich Spitzenverdiener arm rechnen und zahlen unterm Strich wesentlich weniger Steuern. Die Abschreibungsmöglichkeiten hängen natürlich nicht nur am Einkommen. Sie steigen aber mit zustätzlichen Mitteln und der Position in einer Firma. Wenn beispielsweise ein einfacher Arbeiter mit Kumpels einen Trinken geht, dann ist das Freizeit. Beim Manager ist dasselbe ein Sondierungsgespräch oder Team-Building. Wer neben dem Studium für wenig Geld jobbt, kann nichts absetzen. Wer nebenbei eine Firma geerbt hat, kann seine Fortbildungskosten an seine Einnahmen anrechnen. Bei all diesen Möglichkeiten bezeichnen viele unser Land als “Steuerparadies für Reiche”. (Siehe auch “Schön reich – Steuern zahlen andere”)
Die Mehrwertsteuer wird in dieser Analyse nicht betrachtet. Wer der Meinung ist, dass verschiedene Mehrwertsteuersätze einer sozialen Logik folgen würden, der kann sich von diesem Video eines besseren belehren lassen.
Wo sind die Verlierer?
Die Geringverdiener sind die Verlierer in doppelter Hinsicht. Erstens müssen sie sich in einem Papierkrieg mit den Behörden komplett nackig machen und um jeden Cent kämpfen. Danach wird ihnen jeder zuverdienter Euro fast vollständig wieder abgezogen. Soziale Anerkennung für die geleistete Arbeit sieht anders aus.
Tatsächlich steigt die Zahl der Geringverdiener ohne feste Anstellung rapide an. Unter ihnen befinden sich auch Hochqualifizierte, die als Kreative oder Unternehmensgründer ihr eigenes Ding durchziehen möchten. Der digitale Wandel bietet ihnen die Möglichkeiten dazu. Auch wenn nur wenigen der große Durchbruch gelingt, ein Blick über den Atlantik zeigt das Potential, das in dieser Gruppe steckt. Wir kennen die Geschichte von Steve Jobs, der mit einer warmen Mahlzeit pro Woche auf einer Matratze lebte. Auch der Gründer von WhatsApp wandelte sich vom Sozialhilfeempfänger zum Milliardär. Viele Gründer machen einen Tiefpunkt durch. Warum gibt unser Land ihnen nicht einfach eine Chance und kassiert im Erfolgsfall mit?
Es ist kein Wunder, dass die Piratenpartei bei Geringverdienern ihre größte Unterstützung fand. Diesen Menschen helfen keine leeren Versprechungen von Vollbeschäftigung. Weitere Transferleistungen und Mindestlohn kommen dort nicht an. Bürokratieabbau würde helfen, wenn er endlich auch mal für Arme umgesetzt werden würde. Die Sozialpiraten setzen mit einer Forderung nach Flat-Tax und Grundeinkommen wichtige Akzente für den Bürokratieabbau und einer wirksamen Grundsicherung. Das digitale Zeitalter ist von Automatisierung und Rationalisierung geprägt. Die Gesellschaft wird sich von dem jahrzehntelang kultivierten Ideal der Vollbeschäftigung verabschieden müssen. Wenn wir uns als Partei des digitalen Wandels verstehen wollen, dann brauchen wir auf diese soziale Frage eine Antwort.
Kommentare
6 Kommentare zu Weder gerecht noch zukunftsfähig: Eine Bestandsaufnahme unseres Sozialsystems
Da ist ein Fehler drin:
Zuverdienst bei ALG II: 100,00 € Freibetrag, vom Rest 80 % Verrechnung. Zuverdienst bei Sozialhilfe nach SGB XII: kein Freibetrag, 70 % Verrechnung ab dem ersten Euro.
Der Freibetrag sollte hier nicht unterschlagen werden.
(Nicht daß es das wirklich besser macht …)
Hallo, sowohl im Text als auch in der Grafik ist der 100€-Freibetrag vermerkt (“Fest steht, dass ab einem Monatseinkommen von 100€ nur 20% beim Arbeitnehmer im Geldbeutel landen.”).
Viele Grüße, Boris
Lieben Dank für diesen informativen Artikel. Wäre es möglich, die im Artikel anklingenden piratischen Forderungen auch als Diagramm darzustellen? Ein “nomineller” Verlauf welcher Form ergäbe Sinn?
Wir haben zu viele Gesetze und Verordnungen und eine zu große Bürokratie. Für jedes neue Gesetzt oder neue Verordnung sollten 5 alte abgeschafft werden. Ausserdem alle unnötigen Bürokratien abschaffen. Wenn das dadurch eingesparte Geld für direkte Unterstützung an Arbeitslose und Bedürftige geleistet wird, ist das viel wirkungsvoller. Unnötige Staatsausgaben und offensichtliche Verschwendung von Steuergeldern stoppen und die dafür Verantwortlichen haftbar machen. ( siehe Philharmonie in Hamburg, Neuer Flugplatz in Berlin und Nürburgring ) Hartz 4 abschaffen und eine Mindest-Grundeinkommen für jeden einführen. Das würde die Verwaltung extrem verschlanken und den Bürgern ermöglichen, selbst kreativ zu werden und neue Verdienstmöglichkeiten zu schaffen. ( Grundeinkommen darf nicht pfändbar sein, so dass Bürger nicht wieder in die Schuldenfalle getrieben werden können ). Nur so viel Staat wie unbedingt möglich. Der Bürger muss nicht mit jeder Kleinigkeit bevormundet werden. Er kann selbst entscheiden, welche Tomaten oder Gurken er kaufen möchte. Das muss durch keine Behörde normiert werden. Denn dadurch wird nur die Diversität der Nutzpflanzen zerstört, mit nicht absehbaren Folgen für die Ernährung der Menschheit. Monokulturen können durch Schädlinge leicht zerstört werden. Renten müssen staatlich garantiert werden. Der Staat darf sich nicht aus der Veratnwortung stehlen und dem Bürger die Verantwortung aufbürden, denn die sind keine Finanzexperten und wer kann heute noch einem Finanzberater oder Bankier vertrauen ? Durch die geringen Einkommen werden wir in der Zukunft Millionen Bürger haben, die in Altersarmut leben. Dazu kommen die Millionen, die Pflege nötig haben. Zusammen mit der astronomischen Staatsverschuldung sind das unlösbare Probleme, wenn wir sie nicht anfangen, sie jetzt zu löeen. Der Reichtum, den die die deutsche Volkswirtschaft erwirtschaft muß endlich fair verteilt werden. Dieser Reichtume wird nicht durch die paar Prozent Superreichen erwirtschaft, sondern durch die ca. 80 Millionen insgesamt. Die Piratenpartei sollte sich endlich von ihrer Nabelschau verabschieden und die wirklichen Probleme unserer Gesellschaft anpacken und dafür Lösungskonzepte erarbeiten.
claus martin muss man in allen punkten beipflichten. Leider ist es ja so, dass seit ca. 1970 praktisch bei jeder bundestagswahl das thema einer “steuerreform” ganz oben auf der agenda jeder grossen partei stand….nur ist nie etwas einschneidendes zur herstellung wirklicher steuer- und abgabengerechtigkeit passiert – mit der folge, dass waehler mittlerweile gar nicht mehr hinhoeren, wenn wieder einmal dieses thema in einem wahlkampf auftaucht.und zur wahl gehen auch immer weniger.
seien wir doch mal ehrlich- es hat in wahrheit noch nie eine partei eine steuerreform, die den namen verdient, wirklich gewollt. dazu verdient der staat mit hilfe des derzeitigen unuebersichtlichen steuersystems einfach zu gut. man denke zb nur einmal darueber nach, welche rieseneinnahmen der staat verlieren wuerde, wuerden alle steuerpflichtigen ihre ansprueche aus dem lohnsteuer-jahresausgleich einfordern! weil dies nie geschieht, hat der fiskus doch zusaetzliche milliardeneinnahmen,da muesste man in der jeweiligen regierung ja mit dem nagelsack gepudert sein, wenn man das steuersystem einfacher und uebersichtlicher gestalten wuerde…
was abgaben- und rentensysteme angeht, so besteht hier die gigantische zeitbombe der beamtenpensionslawine, von der kein mensch bisher weiss, wie das alles in den naechsten jahren bezahlt werden soll. am besten, man fragt dies einmal seinen zustaendigen bt-abgeordneten….
die renten werden immer weiter verringert und treibt alte menschen, die immer brav ihre beitraege zur rentenkasse gezahlt haben, in erschreckend ansteigenden zahlen in die altersarmut – aber die pensionsansprueche bei beamten und politikern bleiben im wesentlichen unberuehrt – andere privilegien ebenfalls, und das alles, obwohl dieser stark angewachsene personenkreis nichts zur alterssicherung einzahlt. wer hier noch von abgaben- und versorgungsgerechtigkeit redet, macht sich laecherlich. hier ist seit ca. 30 jahren schon eine dringende reform erforderlich, aber nichts geschieht….
Die hier angewendete Betrachtung der ALGII-Reduktion (als vom Staat angeordnete und damit einer Steuer gleichzusetzende Staats-Abgabe) ist von entscheidender Bedeutung für das Verständnis des Wirkmechanismus des gegenwärtigen Steuer- und Sozialabgabensystems auf die Menschen. Die Armen:
Hier wird deutlich, dass angefangen beim Minimallohnempfänger bis in den Bereich von Empfängern bereits überdurchschnittlichen Erwerbsarbeits-Lohnes eine zu hohe (staatliche) Belastung vorliegt. In der Spitze (,die übrigens zufällig recht genau einer “Vollzeit-Mindestlohn”-Stelle entspricht,) liegt die Last bei 100%, also wird an diesem Punkt alles, was der Mensch erarbeitet, weggenommen.
Werden die AG-Anteile zu den SV u. die MWST. mitberechnet – ist die Gesamtbelastung auch schon im Bereich 100€ bis 1200€ oberhalb 80% (bis1000€) und oberhalb 90% (1000 bis 1200 €.)
Weiterhin sind die ersten 100€ brutto=netto nicht als frei verfügbarer Zuverdienst gedacht – und stehen auch nicht zurfreien Verfügung, sie sind nur eine Pauschale für unabwendbar mit der Arbeitsausübung verbundene Kosten (Werbungskosten/Betriebsausgaben).
Die Reichen: Im Bereich sehr hoher Arbeitseinkommen sinkt die Gesamtbelastung dann auf den Wert von angenähert nur noch “Spitzensteuersatz + Solizuschlag + ggf. Kirchenst. + jeweils wirksamer MWSt.satz”. Das liegt daran, dass ein betrachteter ALGII-Abzug – und ebenso (wegen der Beitragsbemessungs- und Beitragspflichtgrenze) die SV-Beiträge mit steigendem Einkommen anteilig immer kleiner werden und dann irgendwann vernachlässigbar (nahe 0) sind. Die Gesamt-Belastung von Großverdienern liegt dann theoretisch bei unter 60 %, der genaue Wert hängt von Kirchensteuer und MWSt-satz 0, 7 oder 19 ab. Praktisch muß man imo aber noch berücksichtigen, dass nur den wenigen Reichen leistungslos, ohne Arbeit, Netto-Vermögenseinkünfte (zB Zinsen, Dividenden, Mietzinsen) zufließen, während die allermeisten im Gegenzug (für die Zins-Anteile über ihre Arbeit und über ihrem Konsum) das unentgeltlich erarbeiten, und das ist den meisten Menschen nicht einmal bewußt. Ein Staat, der zinsen und kapitaleinkünfte ermöglicht und dieses System beschützt, der müsste ehrlicherweise transparent Zinsbelastungen der Besteuerung der Arbeitenden zurechnen und Kapitaleinkünfte als staatliche Subvention für Reiche deklarieren. Die 25% Abgeltungssteuer, die die Reichen auf Kapitaleinkünfte zahlen sollen, ist auch nicht von ihnen, sondern von den anderen, Leistenden erarbeitet und bezahlt. Der vermögende führt sie nur ab.
Für den Reichen gilt : Sobald seine Netto-Vermögenseinkünfte die Summe der von ihm auf sein Arbeitseinkommen gezahlten Steuern und SV-Beiträge erreicht, zahlt er “null” an den Staat. Steigen seine Vermögenseinkünfte darüber, wird er sogar vom Staat leistungslos unterstützt.
Ein gerechtes System kann so aussehen : Geldschöpfung in Staatshänden, Zinsabschaffung, Herleitung und Berechnung :
zunächst definiere ich meine Ziele :
-ich gehe mal davon aus, dass wir ein armutsvermeidendes Einkommen für die Bürger wollen. -Der Staatshaushalt soll (mindestens) ausgeglichen sein. -Die Staatsaufgaben sollen weiterhin erledigt werden. -Die gesundheitliche Versorgung soll sichergestellt werden -Die notwendige Besteuerung soll möglichst gerecht erfolgen
Dann muss ich eine Grenze definieren ab der der Bürger nicht arm ist, nehmen wir mal 60% des Durchschnittsnettoeinkommens (ich nehme hier bewußt Durchschnitt und nicht Median)
dann können wir rechnen :
Vom Lohn des Bürgers (Lohn inklusive sämtlicher Lohnnebenkosten) werden zuerst additiv abgezogen : Prozentsatz für Krankheit/Gesundheitsvorsorge/Pflege/-Versicherung und Prozentsatz für sichere Finanzierung Staatsausgaben (ohne den heutigen Sozial-Anteil) -Vom sich dann ergebenden Betrag müssen noch mal sechs Zehntel für die Finanzierung des armutsverhindernden Grundeinkommens eingezogen werden. Ergibt ca. 78% Gesamtbelastung auf die jeweils persönlich erwirtschaftete Leistung, im Gegenzug hat man selbst und jedes andere Familienmitglied zusätzlich ein armutsverhinderndes Netto-Einkommen. Niemand ist mehr arm.
Das wär`s dann.
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