Ein Gastartikel von Fotios Amanatides.
Wie bereits nachgewiesen, ist das Label Basisdemokratie weitgehend inhaltsleer. Es bedeutet lediglich die Stimmberechtigung all derer, die es sich, zusätzlich zum Mitgliedsbeitrag, finanziell und zeitlich leisten können, auf einem Parteitag anwesend zu sein, um dieses Stimmrecht auch auszuüben. In der Piratenpartei ist das Stimmrecht demnach eine Option, die verfällt, wenn sie am Stichtag nicht gezogen wird. Das satzungsgemäße Stimmrecht der Abwesenden, das sie grundsätzlich durch ihre Beitragszahlung erworben haben, wird parteiengesetzwidrig nicht berücksichtigt. Die Ausübung dieses Stimmrechts muss jedoch gewährleistet sein. Darüber hinaus finanzieren die Abwesenden mit ihrem Beitrag auch die Versammlungen. Ein solches Verhalten wird von PIRATEN bei anderen oft als „neoliberal“ kritisiert. Dabei ist für jedes aktive Mitglied offensichtlich, dass eben nicht jeder kommen kann. Zum einen haben alle auch ein Privatleben, zum anderen sind es die bekannten Schwierigkeiten, wie die Entfernung zum Veranstaltungsort und der damit verbundene, nicht unerhebliche finanzielle Aufwand.Die tatsächlichen Kosten der politischen Mitbestimmung in der Piratenpartei sind eben nicht nur die 48 € Mitgliedsbeitrag im Jahr, sondern zusätzlich Fahrt-, Übernachtungs- und Verpflegungskosten. Im Normalfall zweimal im Jahr zu Landesparteitagen und zweimal im Jahr zu Bundesparteitagen. Setzt man nun 200 € pro Landesparteitagswochenende [4] und 300 € pro Bundesparteitagswochenende an, ergibt sich die stolze Summe von 1048 €, um sein durch die Satzung garantiertes „gleiches Stimmrecht [sic!]“ auszuüben. Von dieser Summe fließen lediglich 48 € in die Berechnung der staatlichen Parteienfinanzierung ein. Die übrigen 1000 € pro Person werden verbrannt, wegen eines vermeintlichen „Alleinstellungsmerkmals“ wie einige kolportieren, welches jedoch alle anderen Kleinparteien auch haben und das im Grunde keinen Wähler interessiert. Andere Piratenparteien, z. B. in Tschechien, haben diesen Punkt überwunden, eine Vertreterversammlung eingeführt und sind damit äußerst erfolgreich.
Nun wird gerade in NRW dieses Problem gravierend verstärkt, denn systembedingt werden hochaktive Mitglieder, die sich für die nächsten Jahre als kommunale Mandatsträger zur Verfügung gestellt haben, von der Teilnahme am Landesparteitag ausgeschlossen. Als Institution müsste die Partei sicherstellen, dass alle ihre Mandatsträger anwesend sein können und niemand vom Parteitag ausgeschlossen wird, weil er oder sie die Partei und ihre Wähler andernorts vertritt. Es ist ja nicht auszuschließen, dass auf einem Parteitag etwas beschlossen wird, das dieser Mandatsträger dann zu vertreten hat, er jedoch aufgrund mangelhafter Planung von der Teilnahme faktisch ausgeschlossen wurde. Somit hatte er weder die Gelegenheit, seine Sicht der Dinge vorzutragen, noch darüber mit abzustimmen. Je erfolgreicher die PIRATEN sind, desto weniger Aktive können aufgrund anderweitiger politischer Verpflichtungen auf Parteitagen anwesend sein. Andererseits muss man allerdings auch eingestehen, dass es praktisch unmöglich ist, die Terminkalender von ca. 150 Mandatsträgern Monate im Voraus zu planen. Es ist von vitalem Interesse der Partei, dieses Dilemma zu lösen.
Zusammengefasst kann man sagen: Das derzeitige System der PIRATEN benachteiligt aktive Kreise mit Mandaten in Randlage relativ zum Tagungsort, exponentiell zu ihrem Erfolg. Es ist demnach nicht auszuschließen, dass der Partei somit langfristig Mandatsträger abhandenkommen, die diesem zunehmend „scheindemokratischen“ Laienschauspiel nicht länger zuschauen wollen, da sie systemisch bedingt vom MITMACHEN faktisch ausgeschlossen werden.
Was wollen die PIRATEN? Mandatsträger, die ihre Mandate ausfüllen, oder dass Mandatsträger mit Wählerauftrag und aktive Mitglieder auf dem Parteitag sind? Wem nützt dieses degenerierte System eigentlich?
Wenn wir – unter Betrachtung der ausgewerteten Akkreditierungsstatistik der Über- bzw. Unterrepräsentanz unterschiedlicher Kreise auf den Landesparteitagen NRW – berücksichtigen, dass zahlreiche Mitglieder wegen ihrer Verpflichtung gegenüber dem Bürger nicht anwesend sein können, und wenn wir die Korrelation der Anzahl teilnehmender PIRATEN zur Entfernung vom Veranstaltungsort betrachten, ist das Fazit, dass die PIRATEN sich von einer anfangs radikalen Demokratie in Richtung einer undemokratischen Oligarchie bewegen, in der die Präsenz auf Parteitagen selbst auf Landesebene abhängig ist von Wohnortnähe sowie finanziellen und zeitlichen Möglichkeiten. [6] Das gilt erst recht für die Mandatsträger.
Nun könnte man sagen, dass der Landesverband programmatisch durchaus homogen ist und die Anzahl kontroverser Anträge in den letzten Jahren relativ gering war. Wie aber sieht es bei den Personenwahlen aus? Bedauerlicherweise sind die Akkreditierungsstatistiken der Aufstellungsversammlungen Münster und Meinerzhagen auch weiterhin „nicht in deinem Landesverband verfügbar“. Und es hat mehrere Jahre gedauert, bis auf formellem bzw. informellem Wege die Akkreditierungsstatistiken seit LPT 12.3 plötzlich im Wiki waren. Diese reichen jedoch zur Auswertung aus, denn sie enthalten die Zusammensetzung von drei Landesvorständen in Relation zur Parteitagszusammensetzung.
Es ist wenig verwunderlich, dass Landesvorstandsmitglieder häufig aus mitgliedsstarken Kreisen kommen. Das an sich ist auch nicht problematisch. Ein Problem ist es jedoch, wenn – wie es die Zahlen nachweisen – so eklatant überproportional diejenigen in den Landesvorstand gewählt werden, die direkt aus dem Veranstaltungsort oder aus benachbarten Kreisen kommen. Das Wahlergebnis muss dabei nicht zwingend beabsichtigt sein, auch nicht auf einer Verschwörung oder Absprachen basieren, sondern ergibt sich zwangsläufig, wenn die Anwesenden überproportional diejenigen wählen, die sie kennen. Dieses gruppendynamische menschliche Sozialverhalten werden weder eine irgendwie geartete SMV noch dezentrale Parteitage ändern. Aber auch darüber könnte man hinwegsehen, zumal es seit jeher schwierig war, Kandidaten zu finden, die sich diese Tortur antun wollen. Worüber man jedoch nicht hinwegsehen kann und darf: Wähler wählen die Kandidaten, die sie kennen, zum Beispiel bei den Personenwahlen zu gemeinsamen Aufstellungslisten.
Es ist schon jetzt hochgradig unfair, satzungswidrig, parteiengesetzwidrig und mutmaßlich grundgesetzwidrig, dass die Stimmen derjenigen, die über den Mitgliedsbeitrag formell die gleichen Rechte haben und den gleichen Anteil an den gemeinsamen Kosten haben, einzig aufgrund der Entfernung weniger bis gar kein Gewicht haben. Wenn noch dazu aber der Beitrag des Einzelnen von der Allgemeinheit als nicht relevant betrachtet wird und die eigene Stimme obendrein wegen anderweitiger Verpflichtungen für die Partei weniger wert ist, dann ist es schlicht und einfach undemokratisch. Dementsprechend wäre es nachvollziehbar, seinen Mitgliedsbeitrag nicht zu bezahlen. Anträge stellen und reden darf man bei Interesse ja weiterhin.
Was also tun, um einen weiteren Verfall zu stoppen? Es wird unumgänglich erforderlich sein, dass die stimmberechtigten Anwesenden auf dem nächsten Landesparteitag im Interesse des Gemeinwohls handeln und ein zukunftsweisendes System beschließen, das endlich das Stimmgewicht jedes Kreises als kleinstem politischen Verband unabhängig von der Entfernung berücksichtigt und somit das tatsächliche Gewicht jeder einzelnen Stimme demokratisch gleichstellt, so wie es die Satzung vorgibt. Diese Solidarität dient dem Wohle aller. Der Antrag „Demokratische Vertretung aller stimmberechtigten PIRATEN auf dem Landesparteitag” ist genau dieser Systemhack, der einerseits einem Vertretungssystem gemäß dem Parteiengesetz entspricht, andererseits so dimensioniert ist, dass KEIN Aktiver ausgeschlossen wird.
Dennoch ist es eine Firewall für die Netzpartei, wenn auf Kreismitgliederversammlungen die Mitglieder vor Ort bestimmen, wem sie das Vertrauen aussprechen, sie an zwei Wochenenden im Jahr zu vertreten. Allen, die jetzt aktiv daran arbeiten, dass die PIRATEN wieder erfolgreich werden, dürfte nach den Erfahrungen der letzten Jahre klar sein, dass eine Firewall notwendig ist.
Ein erfreulicher Nebeneffekt dieses parteiengesetzkonformen Vertretungssystems sind allein für NRW Mehreinnahmen von fast einer viertel Million €. Sie entstehen dadurch, dass aufgrund dieser Formalisierung der Aufwand eines aktiven Mitglieds dem beauftragenden Kreis gespendet werden kann. Diese Spende führt zu einer Verdoppelung dieses Betrages durch die staatliche Parteienfinanzierung im Folgejahr.
Apropos Geld: Laut Rechenschaftsbericht des Bundestages 2014 bekam die Piratenpartei 2014 1,6 Mio. € statt der ihr nach Stimmenkonto zustehenden 2,9 Mio. €, weil der Anspruch gemäß PartG §19a Abs. 5 auf die Summe der selbsterwirtschafteten Einnahmen begrenzt wird. Aus diesem Grunde muss sie nun auch noch ca. 128.000 € wieder zurückzahlen. Weil für 2014 aber die Gesamtsumme der Parteienfinanzierung 156,7 Mio. € beträgt und nicht abgerufene Gelder unter den anderen Parteien verteilt werden, profitiert u.a. die AfD mit einer Nachzahlung in Millionenhöhe.
Eigentlich dürfte es keine Frage sein, ob die PIRATEN bereit sind, ihre im Grundsatzprogramm beschlossenen politischen Ziele – „die Demokratie zu stärken“ und die „indirekten demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten jedes Einzelnen zu steigern” – dort umzusetzen, wo es am einfachsten geht, also bei sich selbst.
Bedauerlicherweise hat man immer wieder das Gefühl, dass die politischen Ziele der Partei den Mitgliedern unbekannt sind und sie das Programm lediglich aus verkürzten Schlagwörtern und von Wahlplakaten her kennen. So ist es auch nicht auszuschließen, dass Einzelnen dieser seit einem halben Jahr im Netz stehende und in zahlreichen Sitzungen online und offline immer wieder überarbeitete Antrag unbekannt ist, und sie ihn – ob aus Trotz oder aus Prinzip ungelesen – dennoch ablehnen, um an einem inhaltsleeren Label festzuhalten, welches das Gegenteil von den Zielen der Partei bewirkt. Gerade in einem Land, in dem schon einmal die Demokratie per Wahl abgeschafft wurde, kann man deshalb ohne Scham sagen:
Wer anderen ihr Recht auf politische Mitbestimmung verweigert, ist kein Demokrat!
Sollte schon eine Landesmitgliederversammlung nicht in der Lage sein, zum Wohle des eigenen Verbandes zu handeln, indem man die Ziele der Partei umsetzt, wird diese Partei wohl kaum fähig sein, glaubwürdig eine Politik zum Wohle der Bürger zu machen. Dann kann man auch gleich gehen und seine Wochenenden mit schöneren Aktivitäten ausfüllen als zu versuchen, mit kompromissunfähigen Menschen Politik zu gestalten.
Kommentare
13 Kommentare zu Piraten und die Beteiligung Teil 2 – Netzpartei ohne Firewall
“+1” – Der Mann hat Recht. Ich fand’ es ja am Anfang “cool” soviel Einfluss auf ein (mehr oder weniger leicht) vertretbares Wahlprogramm zu haben – als einzelnes ordinäres Mitglied. Allerdings muss ich zugeben, stand ich mir selber, aber andere ging es sicherlich nicht besser, dann doch manchmal sehr im Wege, da ich meine Hausaufgaben nicht gemacht hatte, sprich Antragsbuch nicht durchgeackert. Kurz um, seien Wir nun mehr oder weniger aktiv, Wir verbrennen nicht nur Zeit und Geld sondern vor allem und im Besonderen auch unsere Leidensfähigkeit, siehe Austritte. Wir haben es lange genug auf diesen Wege versucht und wir sollten uns endlich entscheiden, wollen wir uns organisatorisch Professionalisieren oder in der Versenkung verschwinden? – Eine Professionalisierung heißt selbstkritisch zu prüfen, welches Hilfsmittel hilft überhaupt nicht, und welches bringt einem tatsächlich voran. Auch wenn es vielleicht dazu führt, dass ich etwaige mal – da kein Deligiertenstatus – keine Stimmberechtigung auf einen Parteitag mehr habe, ich kann damit gut leben, wenn ich das Gefühl habe ordentlich vertreten zu sein und Geld endlich dafür zur Verfügung steht, effektiver zu arbeiten, insbesondere in der Organisationsstruktur. Wenn hier keine Freizeit mehr verbrannt würde, könnten auch mehr Leute politisch (zu)arbeiten.
Wo ist denn eigentlich das Problem, wenn aus den Bereichen, wo ein LPT stattfindet, Menschen, die dafür qualifiziert sind, in den LaVo gewählt werden? Denn das sollte zumindest der Anspruch derer sein, die wählen: Diejenigen mit den Aufgaben zu betrauen, für die sie am besten geeignet sind. Aus eigenem Interesse übrigens. Denn ansonsten findet bald eine Neuwahl statt, die wieder Kosten verursacht, auch dem Wähler, der wieder mitbestimmen möchte.
Was hier propagiert wird, ist also – mal wieder – eine Art von Delegiertensystem. Wahrlich demokratisch wäre es jedoch nur mit dem imperativen Mandat, welches tatsächlich auch die Haltung der Wähler des oder der Delegierten zum Parteitag transportiert. Da dies nach Art. 38(1) GG gesetzlich untersagt ist, wäre also auch ein Delegiertensystem undemokratisch und mit Sicherheit nicht das Ei des Kolumbus.
Wirkliche Demokratie lässt sich viel eher mittels dezentraler Parteitage realisieren, bei denen zumindest all diejenigen an dem jeweiligen Ort zusammenkommen könnten, die auch dort wären, würde der RL-Parteitag dort stattfinden. Bei internen Wahlen dürfte dies möglich sein, bei AVen nach wie vor nicht.
Naja, wer bislang in der Piratenpolitik so notorisch unerfolgreich war wie Fotios Amanatides, kann nur auf so eine Schnapsidee zu so einem für die Piratenpartei derart ungünstigen Zeitpunkt kommen. Wem außerdem seine schwierige Persönlichkeitsstruktur bei der Durchsetzung seiner politischen Ziele im Wege – und das, wie gesagt, seit Jahr und Tag bei den Piraten – steht, sollte sich die Frage stellen, ob er nicht mal daran arbeiten sollte oder ob es nicht besser ist, einer gänzlich anderen Beschäftigung nachgehen sollte, z.B. endlich mal seine Promotion als Politikwissenschaftler in Angriff zu nehmen. Wir werden schließlich alle nicht jünger.
Der kurze Kommentar von Thomas Ganskow macht mehr Sinn als der lange Artikel von Fotios Amanatides.
@ Thomas Ganskow
Delegation ≠ Mandat.
Deine Argumentation ist damit fehlgeschlagen.
Ich habe immer Probleme, wenn die Parteienfinanzierungs-Mechanismen bzw. die Höhe des Auszahlungsbetrags für die Richtigkeit eines Argumentes mit in Betracht gezogen wird. Die Piraten haben sehr wohl mindestens ein ‘Alleinstellungsmerkmal’: der Basispirat! und ihm zur Seite das weitverzweigte System der ‘Mitmach-Angebote’. Freilich ist es schade, wenn z.B. Mailing-Listen nicht ‘funktionieren’ aus undurchschaubaren Gründen. Mir tut es Leid, wenn immer ‘das System Piraten’ angeprangert wird, bevor es überhaupt ‘gelebt’ werden kann! Was mir fehlt als ‘Basispirat’:Adressen für meine Fragen mit der Gewissheit, dass sie kompetent beantwortet werden, nicht erst im kommenden Jahr. Frage 1: warum ist die ML RT-Tü nicht geeignet für die LTW 2016-BaWü und damit zusammenhängende AV-Mitteilungen? Frage 2: wie kann die Verantwortlichkeit für eine ML festgestellt werden? Ich denke, wenn die Basisdemokratie funktionieren soll, braucht es in aller erster Linie ein auf Vertrauen basierendes ‘Kontrollsystem’, kein ‘Delegiertensystem’.
“Inhaltsleer” bzw. selbstwirklichkeitsbestärkend sind die Delegiertensysteme der Etablierten, die zu systemimmanentem Stillstand, Top-Down-Entscheidungsfindung, intransparenter Lobbyanfälligkeit und wahlmonarchieähnlicher Personenzentrierung führen. Da ist jederweder basisdemokratischer Ansatz zielführender; die Schweiz lebt z.B. recht gut damit.
Ich habe da einfach mal in unser Grundsatzprogramm geschaut:
Unter Neue Wege erkennen finde ich da folgenden Grundsatz: “Digitale Medien erhöhen die Geschwindigkeit des Informationsaustausches in der Gesellschaft enorm. Es ist in der heutigen Zeit ein Leichtes, große Mengen an Informationen zu durchsuchen und jedem zugänglich zu machen. Das alles ermöglicht ganz neue und vorher undenkbare Lösungsansätze für die Verteilung von Macht im Staate; vor allem dezentralere Verwaltungen und die Einführung verteilter Systeme werden auf diese Weise stark vereinfacht. Die digitale Revolution ermöglicht der Menschheit eine Weiterentwicklung der Demokratie, bei der die Freiheit, die Grundrechte, vor allem die Meinungsfreiheit sowie die Mitbestimmungsmöglichkeiten jedes Einzelnen gestärkt werden können. Die Piratenpartei sieht es als Ihre Aufgabe an, die Anpassung der gelebten Demokratie in der Bundesrepublik an die neuen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts zu begleiten und zu gestalten.”
Wenn ich jetzt Foti lese, dann frage ich mich: “Soll wirklich, ein altertümliches, aus der Zeit der Politikverdrossenheit stammendes Delegiertensystem, diese „neue Möglichkeit“ des 21. Jahrhunderts sein?”
Sollte dies zutreffen, dann kein Wunder dass wir so langsam aber sicher den Weg ins Nirvana beschreiten… Sollte dies zutreffen, dann kein Wunder dass wir so langsam aber sicher den Weg ins Nirvana beschreiten… Was mich etwas wundert ist, dass doch gerade einem Politikwissenschaftler klar sein sollte, dass Veränderungen nicht von heute auf morgen umzusetzen sind. Es war klar, dass von Menschen, denen man jahrzehntelang keine Mitarbeit in der Politik ermöglicht hat, welche über ein Kreuz machen hinausgeht (übrigens durch Instrumente wie Delegationen), jetzt sofort zu verlangen, auf neue Partizipationsmöglichkeiten einzugehen, kann nicht funktionieren.
Ich verstehe den Text in unserem Grundsatzprogramm so, dass wir neue Wege suchen müssen, auch wenn es langwierig und schwierig wird. Aber wir sollten auf keinen Fall ausgetretene alte Pfade, die auch noch Mitgrund einer Politikverdrossenheit sind, als unseren Weg ansehen.
Gruß Enavigo
Alles Ausreden und Bedenken gegen den Dezentralen Parteitag. Hier könnten die Piraten mal experimentieren und wenigstens den Anschein erwecken als versuchten sie immer noch, das mit der Politik 2.0 ernsthaft zu erkunden. Stattdessen – ich sag’ nur “Umfrage”. In dieser vor dem LPT veranstalteten Umfrage, die fast nur aus Fragen zur Funktion des befragten innerhalb des Landesverbands bestand, war tatsächlich eine der wenigen inhaltlichen Fragen zur Parteientwicklung enthalten, welche Beteilgungsform man sich bevorzugt wünschen würde oder vorstellen könnte oder so ähnlich. Das mausetote Liquid Feedback, das für diese Partei unter keinsten Umständen mehr die allergeringste Rolle spielen wird, war da ZWEI Mal aufgeführt – der Dezentrale Parteitag GAR nicht. Mehr muss man echt nicht wissen über den Zustand dieser Partei. Es wird nicht mehr experimentiert; man hat aufgegeben; man hat sich mit der Bedeutungslosigkeit allerorten abgefunden.
Ich lese hier natürlich auch Sachargumente, die zu weiten Teilen auch nicht völlig unberechtigt sind, dennoch bleibt die Argumentation insgesamt fragwürdig und inkonsistent.
==Der Ortsbias==
Das zutreffendste Argument ist noch der Ortsbias – dass also aus der geographischen Nähe eines Parteitags mehr Teilnehmer kommen als aus weiter entfernten Orten. Wenn der Parteitag bei mir vor der Türe ist und ich keine Übernachtungskosten habe, dann komme ich eher zu einem Parteitag, als wenn er weit entfernt ist.
Die Einführung eines Delegiertensystems führt nun nicht dazu, dass mehr Piraten aus entfernten Gegenden anreisen. Ich habe in der ÖDP über 20 Jahre Erfahrung mit einem Delegiertensystem gemacht und keinen einzigen Parteitag erlebt, an dem mehr als 80% der Delegierten anwesend waren, und natürlich gab’s auch dort einen deutlichen Ortsbias.
Allerdings führt das Delegiertensystem dazu, dass die Piraten aus der Nachbarschaft, die dann keine Delegierten sind, dann zwar kommen, aber nicht mitstimmen können. Das immerhin schwächt den Ortsbias ab.
==Der Einkommensbias==
Das Delegiertensystem führt jedoch zu einem stärker werdenden Einkommensbias, zumindest dann, wenn es so umgesetzt wird, wie argumentiert. Im Moment können auch Piraten mit geringem Einkommen zu einem Parteitag kommen. Die Anreise erfolgt dann über Bus oder Mitfahrgelegenheit, die Übernachtung bei Freunden oder Parteifreunden, in der Jugendherberge oder – sofern möglich – in der Schlafhalle. Ich habe immer wieder etliche einkommensschwache Personen auf unseren Bundesparteitagen gesehen, und in der Regel haben sie weniger als 100,- Euro dafür aufgewendet, und niemand hat es gestört.
Sollen nun die Reisekosten der Delegierten – wie vorgesehen – zu höheren Einnahmen über die Parteienfinanzierung führen, dann ist es zunächst einmal zwingend erforderlich, dass diese gespendet werden. Eine Auszahlung von Reisekosten, damit auch einkommensschwache Personen sich den Parteitag leisten können, führt nicht zu höheren staatlichen Mitteln, diese hängen nun mal an den Einnahmen und nicht an den Ausgaben.
Bei der derzeitigen innerparteilichen Aufteilung der staatlichen Mittel ist es auch keine Option, dass mindestens die Hälfte der Delegierten spendet und damit die Reisekosten der anderen Hälfte quersubventioniert – denn die Kosten fallen in voller Höhe bei der delegierenden Gliederung an, die aber nur einen kleinen Teil der staatlichen Mittel erhält. Zumal die Idee “die Hälfte wird schon zurückspenden” ein paar Mal bei Bundesparteitagen ausprobiert wurde, und die Rückspendenquote hat nie 50% erreicht.
Das ist dann der Punkt, an dem der Einkommensbias entsteht. Bei der Delegiertenwahl müssten die Kreisverbände darauf achten, nur einkommensstarke Personen zu wählen, damit nicht unbeabsichtigt Kosten für den KV durch unterbliebene Rückspenden entstehen – oder dass Delegierten dann einfach gar nicht fahren und so die so hoch beschworene demokratische Teilhabe dieses Kreisverbandes darunter leidet. Mehr noch: Piraten mit hohem Einkommen reisen im Durchschnitt teurer: Bahn oder Auto statt Bus, Hotel statt Schlafhalle, und über diesen Umweg erhöhen sie die staatlichen Mittel mehr als einkommensschwache Personen. Piraten mit geringem Einkommen zu Delegierten zu wählen wäre genaugenommen dann parteischädigend.
Natürlich darf man fordern, dass die geographische Nähe zu einem Parteitagsort einen geringeren und das Einkommen eine höheren Einfluss auf die getroffenen Entscheidungen haben soll – das ist eine politische Entscheidung. Aber das sollte man dann klar benennen und nicht so tun, als sei das eine quasi alternativlos. Und man sollte auch nicht behaupten, dass kein Aktiver ausgeschlossen wird – anders bekommt man den Ortsbias nicht weg (oder muss unrealistisch viel Geld in die Hand nehmen).
==Die Sache mit der Vertretung==
Ich bin nicht dezidiert ein Gegner jedes Delegiertensystems, aber ich bin klar dagegen, das klassisch über Delgierte der Untergliederungen zu organisieren, weil dies deutlich den Konformitätsdruck erhöht: Wenn ich eine konträre Meinung zur herrschenden Meinung in meiner Untergliederung habe, dann halte ich entweder brav den Mund, oder ich werde einfach nie Delegierter und andere stimmen für mich auf den Parteitagen und entscheiden konträr zu dem, wie ich entschieden hätte – Hurra, ich bin vertreten.
Wenn ich mir den Parteitag zeitlich oder finanziell nicht leisten kann, dann fällt meine Stimme wenigstens nur ersatzlos weg, aber es nutzt keiner mein Stimmgewicht, um für das Gegenteil zu stimmen. Abgesehen davon, dass diese Art von Vertretung mir wenig erstrebenswert erscheint, führt das einfach zu Duckmäusertum gegenüber der herrschenden oder auch nur gefühlten Mehrheitsmeinung (man google “Schweigespirale”…) – oder aber zu massenhaften Wechseln der Untergliederungen, als ob die GenSeks nicht bereits genug “Spaß” haben.
Kurz: Ich bin mit diesem Vorschlag und seiner Begründung nicht glücklich.
Lieber Foti!
Schon im ersten Absatz machst Du einen großen Fehler. Alle zahlen, müssen es aber nicht nutzen, ist alles, nur nicht neoliberal. Oder ist der umlagenfinanzierte ÖPNV auch neoliberal?
An anderen Stellen hast Du natürlich recht.
Allerdings halte ich das Schielen auf die Parteienfinanzierung eher für neoliberal 😉
Auch für mich sind Parteitage eine erhebliche Belastung. In meinem Fall finanziell. Und ich habe deshalb auch schon an Parteitagen nicht teilgenommen. Aber mir ist die Möglichkeit (!) abzustimmen, wichtiger, als daß ich meine Stimme “abgebe”.
Mit einem Delegierten-System könnte ich mich nur anfreunden, wenn der Delegierte auf dem Parteitag dann so abstimmen würde: Ulm meldet 12 mal Ja und 2 mal Nein. Das wäre eine Mischform aus dezentralem und Delegiertem-Parteitag, ergibt aber andere Probleme, wie z.B. daß feststehen müßte, welche Programmpunkte auf dem PT drankommen. (Bzw. bei Personenwahlen, wer kandidiert.)
Gruß
@Michael Ebner: Wenn du mit deiner Meinung in deinem KV in der Minderheit bist, dann bist du auch ohne Delegierte auf dem Parteitag in der Minderheit – jedenfalls dann, wenn alle Mitglieder deines KVs dort vertreten wären. Insofern änderte daran ein Delegiertensystem nichts. Im übrigen ist der Antrag so konzipiert, dass unter der Annahme der momentanen Aktivität sich jeder der zum Parteitag will “delegieren” lassen kann. Es ändert sich also erst mal nichts, die “Firewall” greift erst dann, wenn und falls die Piraten wieder einen Hype erleben sollten.
Eine generelle Bemerkung noch: Mit scheinen die Argumente der Delegationsgegner auf einen Punkt hinauszulaufen: einen Abwehrreflex als Folge des Gefühls, man bekäme etwas weggenommen. Besitzstandswahrung bzw. die Wahrnehmung des Stimmrechts als Eigentum, das es zu verteidigen gilt, ist keine gute Voraussetzung für eine funktionierende (innerparteiliche) Demokratie: Die ist nämlich am Gemeinwohl, und nicht am Eigennutz des Einzelnen, orientiert.
Die grundlegende Frage, die zu beantworten die Piraten sich nie bemüht haben, ist: Welche Gleichheit soll Eure Demokratie haben? Geht es um die Gleichheit der theoretischen Beteiligungsmöglichkeiten? Dann ist alles bestens und die Piraten sind demokratischer als alle anderen, weil sie mehr von diesen Möglichkeiten bieten. Oder geht es um die faktische Gleichheit der Beteiligung? Dann sind die Piraten nicht sonderlich demokratisch, weil bei Parteitagen eben Menschen mit Kindern, Menschen mit weniger Einkommen oder weniger flexibler Zeiteinteilung unterrepräsentiert sind, weil von weiter weg weniger Menschen und dann auch nur die mit höherem Einkommen anreisen und so weiter.
Wen empirische Ergebnisse dazu interessieren, der schaue hier: Mehr Ungleichheit durch mehr Partizipationsmöglichkeiten? Carsten Koschmieder und Mario Datts über die soziale Zusammensetzung der Bundesmitgliederversammlungen der Piratenpartei, in: Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, 9. Januar 2015, http://www.demokratie-goettingen.de/blog/mehr-ungleichheit-durch-mehr-partizipationsmoeglichkeite.
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