Man stelle sich vor, der Anschlag auf Charlie Hebdo wäre in der Amtszeit des Nicolas Sarkozy verübt worden.
Oder schlimmer noch: ein Präsident wie George W. Bush II residierte derzeit im Élysée-Palast! Anders als François Hollande, der seine Landsleute zur Wachsamkeit aufrief, wären unter Sarkozy oder Bush sicher Rufe zu den Waffen erfolgt. Doch der sozialistische Präsident erinnerte an Demokratie, Freiheit und Pluralismus und warnte vor der Gefahr, dass Franzosen sich auseinander dividieren lassen. Damit hat er das Ziel des Anschlags klar genannt: Es ging den den Brüdern Kouachi in erster Linie darum, das Misstrauen und den Hass auf allen Seiten zu schüren, zwischen Christen, Moslems, Juden und überhaupt allen, die anders leben als ihre Landsleute.
Nicht weiter verwunderlich ist es, dass die rechtsextreme Front National versucht Kapital aus den Anschlägen zu ziehen. Die Parteivorsitzende Marie Le Pen forderte sofort eine “Diskussion über die Todesstrafe”. Doch Le Pens Versuchsballons platzen erstaunlich früh ohne eine grosse Wirkung zu entfalten. Viele Beobachter der französischen Politik waren sich bisher sicher, dass Le Pens Einzug in den Élysée-Palast bei der nächsten Präsidentschaftswahl eine ausgemachte Sache sei. Offensichtlich gelingt es ihr jetzt aber nicht, Kapital aus den Morden zu schlagen. Im selben Mass, mit dem Hollande ein Gespür für die Stimmung im Land entwickelt, scheint Le Pen es zu verlieren. Der ausbleibende Erfolg lässt sie dünnhäutiger agieren, sie verliert schneller die Contenance und liefert dabei das Bild einer verbitterten Frau.
In Deutschland versuchen die islamfeindliche Pegida-Bewegung und die nationalkonservative AfD die Toten in Paris in Zustimmungspunkte für sich selbst zu wandeln. So forderte Hans-Olaf Henkel von der AfD “eine ehrliche Diskussion über die Auswüchse des Islam”, in Dresden verschärfte Pegida die Marschrichtung und fordert ein “hartes Durchgreifen”.
Aus Kreisen der CDU/CSU hingegen waren die üblichen Reaktionen zu beobachten: ein Kessel Buntes soll es richten. Die Forderungen reichen vom Entzug der Staatsbürgerschaft und Reiseverboten bis zum ungehinderten Zugriff auf Internet- und Telefonverbindungsdaten. Dies soll, dieses Mal wirklich, dem Terror ein Ende setzen. Dass Frankreich eine Vorratsdatenspeicherung von 12 Monaten hat, dass der Nachrichten- und Transaktionsverkehr dank vorgeschriebener Abhörschnittstellen ohnehin schon lückenlos überwacht wird, dass die Kouachi-Brüder tatsächlich seit Jahren in deutschen und US-amerikanischen Terrorliste standen, ficht die Überwachungsfreunde im Adenauerhaus nicht an. In Wirklichkeit ist man dort seit Jahren rat- und hilflos bei der Suche nach Antworten auf die religiöse und politische Radikalisierung, die zu Anschlägen führt. Die taff vorgebrachten Forderungen nach strengeren Gesetzen können von dieser geistigen Leere nicht mehr ablenken. Die immer gleichen Forderungen erinnern an die Erkentnis von Paul Watzlawick: “Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel”.
Scheinbar werden Töne und Forderungen mit wachsendem Abstand zur Verantwortung schriller. Im Élysée-Palast beweist der Präsident derweil Weitblick: “Unsere beste Waffe ist unsere Einheit”.
About Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervor ging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites grosses Hobby, den Amateurfunk, investiert.
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Kommentare
2 Kommentare zu Im Schatten des Attentats
Der Artikel regt zu vielen unterschiedlichen Gedanken an. Jedes größere und vor allem spektakuläre Ereignis, dient dazu, dass ich mich meinem Relativierungswahn Beuge, meine Objektivität im ersten Moment verliere und somit den kleineren Ereignissen zu wenig Bedeutung zukommen lasse. Große Anschläge sind bestens geeignet, um eine Zeitenwende zu markieren, in unser kollektives Bewusstsein einzudringen, um Kriege überhaupt erst führen zu können, um Rüstung zu verteilen, oder um z.B. Feindbilder aufzubauen. Wenn es große Anschläge nicht gäbe, dann müssten sie wohl glatt erfunden werden, denn Anschläge sind bisher alternativlos, weil systemrelvant!
An großen Ereignissen verdienen alle etwas daran: die Medien, die Industrie, die Banken und ganz am Ende fällt für mich auch etwas ab, und zwar auf eine Art und Weise, dass ich deren Nachteile bereitwillig und gerne in Kauf nehme. 🙂 Im Grunde, wie bei jedem Computerteil; Akzeptierst du unsere Bedinungen? JA / NEIN – Bei NEIN hast du leider Pech gehabt oder Du darfst dein Gerät zurück geben!
Der letzte Satz des Artikels gefällt mir! Nur wenn professionelle Politiker von “wir” sprechen, dann meinen sie meistens nur sich selber und ihre Ziele die sie verfolgen sollen. Der solidarische Rest wird meistens Instumenalisiert, er kann sich mit seinen Menschenrechten, seiner Freiheit, und Demokratie auseinandersetzen, weil er nicht viel zu melden hat.
Mit Verlaub, man könnte wissen, dass im Französischen „le front“ heißt, also grammatisch maskulin ist und es somit im Deutschen an dieser Stelle „der rechtsextreme Front National“ heißen muss, und dessen unsägliche Vorsitzende heißt mit Vornamen „Marine“. Wo bleibt hier das Lektorat?