Viele Piraten machen “Politik aus Notwehr”. Das bringt einen eigenen Stil mit sich: ausprobieren, schauen ob es funktioniert und anschließend, möglicherweise, die Strategie ändern. Dabei kann es bei der Suche nach einer Linie nicht schaden, sich Feedback von außen zu holen. Carsten Koschmieder, Parteienforscher am Otto-Suhr-Institut für Poltikwissenschaft an der FU in Berlin, gilt als Kenner der Piratenpartei. Wir fragen nach seiner Einschätzung der derzeitigen Lage der Piratenpartei.
Flaschenpost: Wie steht es aus Ihrer Sicht um die Piratenpartei?
Carsten Koschmieder: Nicht besonders gut. Bei den letzten Wahlen fiel das Ergebnis ernüchternd aus, in Sachsen hat die Partei nur etwas mehr als halb so viele Stimmenanteile bekommen wie 2009 – lange vor dem Hype. Die Mitgliederzahlen gehen zurück, immer weniger Menschen engagieren sich für die Partei – wegen der Erfolglosigkeit, aber auch aufgrund des Umganges miteinander. Die Quote derer, die ihren Beitrag zahlen, ist nicht ermutigend. Dementsprechend scheint die Partei finanzielle Schwierigkeiten zu haben. Organisatorisch sind die Piraten auch noch nicht weiter: Parteitage laufen immer noch chaotisch und vergleichsweise unproduktiv ab, einen Mechanismus zur Konsensbildung gibt es weiterhin nicht, und die Online-Mitbestimmung findet zunächst per Briefwahl statt, was in den Medien für Spott sorgt – wenn die Piraten denn überhaupt noch in den Medien vorkommen, was selten genug geworden ist. Momentan aber schaffen sie es wieder: aufgrund der öffentlichkeitswirksamen Austritte einiger prominenter Mitglieder sowie von Amts- und Mandatsträgerinnen. Öffentlich verfestigt sich so das Bild, die Partei sei am Ende.
Flaschenpost: Wieso gibt es gerade so viele Austritte?
Carsten Koschmieder: Lassen Sie mich zur Beantwortung der Frage ein bisschen ausholen. Die Piraten wurden gegründet von Menschen, die im Internet Musik tauschen wollten, und sie beschäftigten sich in den ersten Jahren ausschließlich mit Themen wie Urheberrecht, Überwachung im Netz und so weiter. Einige Mitglieder sagten von sich selbst, dass sie unpolitisch seien und „Politik aus Notwehr“ betrieben, weil sie ihren „Lebensraum“ bedroht sahen. Sie hatten explizit keine Ambitionen, irgendwelche anderen Politikfelder zu bearbeiten. Andere Mitglieder waren vorher in den unterschiedlichsten Parteien und hatten dementsprechend zu vielen Themen ganz unterschiedliche Positionen. Sie alle einte nur, dass sie bei den sogenannten Kernthemen im Großen und Ganzen einer Meinung waren. Spätestens seit dem Parteitag in Chemnitz 2010 weitete die Partei ihr Programm jedoch nach und nach aus. Zunächst nur langsam und so allgemein, dass nur vereinzelt (wie beim BGE) Streit entstand. Nach dem Einzug in vier Landtage beschleunigte sich dieser Prozess aber aus zwei Gründen: zum einen, weil es für eine in Parlamenten vertretene Partei unprofessionell wirkte, immer mit „Dazu haben wir noch keinen Beschluss“ zu antworten, zum anderen, weil die Abgeordneten sich eben zu allen politischen Themen verhalten mussten. Auch wenn rückblickend manche Piraten die Ausweitung der Themen für einen Fehler halten, ließ es sich nicht vermeiden – zu den meisten Themen nichts zu sagen, hätte bedeutet, keine politische Partei zu sein.
Da nun aber die Mitglieder der Partei zu allen Nicht-Kern-Themen unglaublich heterogene Positionen vertreten haben, musste eine Festlegung bei politischen Themen innerparteilichen Streit verursachen – und letztlich zu Austritten eines Teiles der Partei führen. Ein radikaler Marktliberaler und ein Verfechter einer staatlich gelenkten Wirtschaft, um zwei fiktive Positionen zur Verdeutlichung heranzuziehen, können zwar in einer NGO gegen die Überwachung zusammenarbeiten, aber sie können nicht (lange) in derselben politischen Partei Mitglied sein. Auch bei den Grünen konnte man das beobachten: Zunächst waren viele eingetreten, die sich für Umweltschutz engagieren wollten. Als sich später in gesellschaftspolitischen Fragen linke Positionen durchsetzten, traten die extrem Rechten aus der Partei aus. An dieser Stelle stehen nun auch die Piraten: Es scheint sich eine bestimmte Position innerhalb der Partei durchzusetzen, und die, die mit dieser Position überhaupt nicht einverstanden sind und nicht mehr daran glauben, sie in ihrem Sinne verändern zu können, verlassen die Partei oder denken zumindest laut darüber nach.
Flaschenpost: Einige der ausgetreten Piraten prägten das Gesicht der Partei. Bei öffentlichen Auftritten wie auch bei öffentlichen Streitereien und Dummheiten. War das Motto “Themen statt Köpfe” aus den Anfangsjahren der Partei doch richtig?
Carsten Koschmieder: „Themen statt Köpfe“ klingt erstmal gut, funktioniert aber in der Realität nicht. Während des Europawahlkampfes waren mehrfach Katharina Nocun und Marina Weisband in Talkshows zu Gast, obwohl sie kein Parteiamt mehr innehatten und auch für kein Mandat kandidierten. Die Redaktion von Günther Jauch ruft aber nicht bei den Piraten an und sagt: schickt uns mal eure beste Frau zum Thema „Überwachung“; die Partei kann sich also nicht aussuchen, wer in den Medien präsent ist. Und darum kann sie auch nicht dafür sorgen, dass es jedes Mal ein anderer kompetenter Pirat ist und niemand zu prominent wird. Gerade die Piraten als eine kleinere Partei können also entweder mit einer Handvoll Personen immer mal wieder in den Medien auftauchen, die dadurch eine gewisse Prominenz erlangen – oder sie kommt überhaupt nicht in den Medien vor. Da aber Medienberichterstattung für eine Partei essentiell ist, scheint mir das keine sinnvolle Lösung zu sein.
Bei der Bundestagswahl gab es ja den Versuch, mit sechzehn Spitzenkandidatinnen, einem Dutzend Themenbeauftragten und dem Bundesvorstand in die Öffentlichkeit zu dringen. Dieser Versuch aber kann als gescheitert gelten. Die Mehrzahl der Wähler verbindet eben Themen mit Personen und entscheidet beispielsweise auch danach, ob er den prominenten Vertreterinnen einer Partei vertraut.
Und zu guter Letzt: Wenn der gewählte Parteivorstand durch öffentliche Auftritte eine gewisse Prominenz erlangt, dann ist er immerhin gewählt, also legitimiert. Nimmt er diese Rolle bewusst nicht wahr, dann landen vielleicht Piraten im Fernsehen, die überhaupt nicht gewählt und damit auch weder legitimiert noch abwählbar sind. Dass ein Parteivorsitzender durch Medienpräsenz auch seine innerparteiliche Machtstellung stärken kann, muss die Partei dafür natürlich in Kauf zu nehmen bereit sein.
Flaschenpost: Beim Bundesparteitag in Halle fand eine Entscheidung über die zukünftige Ausrichtung statt, bei der Kernthemen und Bürgerrechte den Zuschlag bekamen. Seitdem agiert der Bundesvorstand als Team und weiß einen großen Teil der Basis hinter sich – das gab es seit 2012 nicht mehr. Wie kann aus dieser neuen Einigkeit heraus die Trendwende geschafft werden?
Carsten Koschmieder: Da in Deutschland streitende Parteien an Zustimmung verlieren, ist es für die Piraten tatsächlich erstmal gut, dass der BuVo harmonisch zusammenzuarbeiten scheint. Wenn ich davon ausgehe, dass es zwischen den unterschiedlichen Strömungen in der Partei keine Einigung und kein Miteinander geben kann, dann ist es tatsächlich besser, wenn eine Seite die Partei verlässt (oder herausgedrängt wird) und der Rest der Partei in Ruhe arbeitet. Und natürlich kann eine Partei, die sich über ihr Programm einig ist und sich nicht streitet, leichter die Trendwende schaffen, als eine Partei, die sich über ihr Programm uneinig ist und die sich ständig öffentlich und unschön streitet.
Das Problem bei dieser Trendwende ist meines Erachtens, dass die Fokussierung auf die sogenannten Kernthemen (also Urheberrecht, Internetthemen, Bürgerrechte) keinen Erfolg bringen wird. Natürlich kann die Partei sich aus Überzeugung auf diese Themen konzentrieren, aber wenn Sie mich nach den Erfolgsaussichten fragen: Die Piraten sind immer nur von vielleicht zwei Prozent der Wähler wegen ihrer Kernthemen gewählt worden. Umfragen zeigen, dass diese Themen die Menschen kaum interessieren und dass sie selbst für die Interessierten keinesfalls wahlentscheidend sind – selbst dann nicht, wenn die NSA-Affäre monatelang in allen Zeitungen steht. Darum gehe ich davon aus, dass auch mit einer besseren Organisation, weniger Streit, einem strukturierterem Wahlkampf und so weiter die Wahlergebnisse auf dem Niveau der letzten Wahlen bleiben werden.
Das heißt aber natürlich nicht, dass ich den Piraten empfehlen würde, Themen nur deshalb zu vertreten, weil sie vielleicht einen Wahlerfolg bringen könnten. Der Weg aber, die Menschen davon zu überzeugen, dass die Themen der Piraten nicht nur wichtig, sondern wahlentscheidend sind und dass die Piratenpartei sie kompetent vertritt, ist ein sehr weiter.
Flaschenpost: Das klingt ja fast so, also ob den Piraten seit Halle die sozialen Themen weniger am Herzen lägen. Abgewählt wurde dort der Streit und die fehlende gute Kinderstube einiger Piraten. Das Humanistische, das Mitmenschliche oder, um einen großen Begriff zu bemühen, das Idealistische, hat in einem kernigeren Vorstand nicht weniger Gewicht.
Carsten Koschmieder: Auch unter dem neuen Vorstand setzt sich die Partei weiterhin für „linke“ Themen ein, das ist richtig: Sie beteiligt sich beispielsweise an der Aktion „aufRecht bestehen“, wo es um Sanktionen gegen Sozialhilfeempfängerinnen geht, und Stefan Körner wirbt in der Jungen Welt dafür.
Ich halte es aber für einen Fehler, die internen Streitigkeiten auf Personen und deren fehlende Sozialkompetenz zu schieben. Die Personalisierung von Problemen verhindert meist, die eigentlichen strukturellen Ursachen zu verstehen. Wenn ich an den Streit um Johannes Ponader im Bundesvorstand erinnern darf: Viele sagten damals, es läge vor allem an ihm und mit seinem Rücktritt würde alles wieder besser. Wurde es dann aber natürlich nicht, weil er gar nicht das Problem war. Und auch jetzt gibt es, wie oben schon beschrieben, in der Partei einfach völlig unterschiedliche Interessen – und nicht nur schlechte Umgangsformen.
Die Strömung innerhalb der Partei, die sich jetzt durchgesetzt hat, macht an vielen Stellen deutlich, dass sie die Partei in gesellschaftspolitischen Fragen weniger „links“ aufstellen möchte. So ist sie gegen die Blockade rechtsextremer Demonstrationen, eine progressivere Asyl- und Flüchtlingspolitik oder die klare Distanzierung von Parteimitgliedern, die ihre Meinungsfreiheit für diskriminierende Aussagen nutzen – alles Punkte, die den „Linken“, die jetzt die Partei verlassen, sehr wichtig waren. Ich möchte hier gar nicht darüber urteilen, welche der Positionen nun die richtigen sind. Mir geht es darum, deutlich zu machen, dass die Partei in Halle eben auch eine Richtungsentscheidung getroffen hat.
Flaschenpost: Welche Möglichkeiten bleiben Progressiven oder Parteilinken, in der Piratenpartei Politik zu machen?
Carsten Koschmieder: Die Mehrheit der Partei hat ja wie erläutert sehr deutlich gemacht, dass sie bestimmte „linke“ Positionen nicht nur nicht unterstützt, sondern ablehnt oder gar bekämpft. Insofern ist es schwer für Parteilinke zu sagen: Ich setze mich in der Piratenpartei für die Kernthemen ein und in einer anderen Gruppe XY für linke Themen, da mir beide wichtig sind. Denn: Eine Parteilinke, die sich innerhalb der Partei für die Kernthemen engagiert und auch sonst ein vorbildliches Mitglied ist, würde für ihr privates Engagement für allzu linke oder feministische Themen von anderen Parteimitgliedern trotzdem angegangen und beschimpft. Natürlich könnten sich „Progressive“ in Zukunft ausschließlich auf die Kernthemen beschränken und „linke“ Themen überhaupt nicht mehr verfolgen, um ohne Streit in der Partei bleiben zu können. Ich bezweifle aber, dass es viele gibt, die das wollten. Und abgesehen davon: Die Gräben in der Partei sind so tief, die Stimmung so feindselig, dass vermutlich selbst das nicht funktionieren würde.
Wenn ich mir auf Veranstaltungen anhöre, wie abfällig über die jeweils „andere Seite“ geredet wird, wenn ich höre und lese, was der jeweils „anderen Seite“ zugetraut wird, wenn ich mich an die Stimmung auf dem aBPT erinnere und an die Buh-Rufe, die es für Menschen gab, die für einen fairen Umgang miteinander warben – dann glaube ich einfach nicht, dass es da einen Modus vivendi geben kann. Zumal immer seltener noch auf das Verhalten einzelner Personen geschaut wird, sondern eine vermeintliche Gruppenzugehörigkeit bereits ausreicht – nicht unüblich bei Vorurteilen und Feindbildern. Ich selbst wurde ja auch schon angegriffen, nicht für den Inhalt meiner Äußerungen, sondern weil ich vermeintlich dem „anderen“ Lager angehören würde und darum das, was ich sage, falsch sein muss – absurd.
Der Rückzug in einen „progressiven“ Berliner Landesverband ist übrigens auch keine Option. Abgesehen davon, dass ein Landesverband sowieso nicht unabhängig von der Bundespartei ist (beispielsweise die Ordnungsmaßnahme gegen Christopher Lauer, aber auch finanziell): auch Berlin besteht ja nicht nur aus Piraten, die sich den Progressiven“ zurechnen.
Flaschenpost: Welche Möglichkeiten des politischen Engagements bleibt den Piraten, die die Partei jetzt verlassen?
Carsten Koschmieder: Diejenigen unter den Ausgetretenen, die nicht zu desillusioniert oder zu ausgebrannt sind, können sich natürlich außerhalb von politischen Parteien engagieren, da gäbe es genug Möglichkeiten. Die Gründung einer neuen Partei hingegen halte ich für sehr schwierig. Innerhalb der „Parteilinken“ wurde darüber ja jetzt seit Monaten diskutiert. Eine neue Partei hätte kein Geld, keine Mitglieder und keine Strukturen. Auch in Berlin müsste eine neue Partei zur Wahl wieder Unterschriften sammeln, selbst wenn ein Teil der Fraktion mit übertreten würde. Auch die staatlichen Zuschüsse gingen weiter an die alte Piratenpartei. Den Namen „Piraten“ dürfte die neue Partei wohl nicht im Namen führen, dann könnte sie aber nicht mehr Teil der internationalen Piratenbewegung sein. Bei Wahlen hätte die neue, unbekannte Partei erstmal keine Chance, zumal sie sich dann ja mit der ebenfalls antretenden Piratenpartei um ähnliche Wählergruppen streiten würde. Ich rechne also nicht mit einer neuen Partei. Bleibt noch der Beitritt in eine andere Partei. Es gibt sicher einige, die sich bei den Grünen oder den Linken wiederfinden könnten, aber letztlich gab es ja bei den jetzt Ausgetretenen Gründe, warum sie Piraten geworden sind.
Flaschenpost: Vielen Dank Herr Koschmieder für die ausführlichen Antworten. Was Sie sagen macht nachdenklich, die Politik wird noch Überraschungen für uns Piraten bereit halten – und wir für sie.
About Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervor ging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites grosses Hobby, den Amateurfunk, investiert.
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Kommentare
5 Kommentare zu Internen Streit nicht auf Personen mit fehlender Sozialkompetenz schieben – Carsten Koschmieder im Interview
Nun soll aber ein neues innovatives Konzept namens “Weder Themen noch Köpfe” es richten.
Piraten+, Piraten+, bald ist mit den Piraten Schluss.
Da sich die PIRATENPARTEI noch in der Konsolidierungsphase befindet, sollte diese Einschätzung nicht all zu eng gesehen werden. Dennoch sehe ich ein paar interessante Aspekte darin, denen ich mich nicht verschließen möchte. Doch eine Zukunft ist für die Partei allemal drin.
Es ist ein solider Grundstock, auf den wir jetzt in der PIRATENPARTEI bauen können und Themen lassen sich auch so langsam erweitern. Mit dem Thema Internet und dessen Sicherheit aber auch Freiheit gehen die etablierten Parteien um, wie eine Horde Elefanten im Porzellanladen. Es ist gut, dass es uns gibt und wir haben auch schon einiges bewegt.
Was Absatz 2 betrifft, vertritt der Politologe mit der nachstehenden Annahmen eine Legende die erst 2009 entstanden ist, – welche von verschiedensten Gruppen benutzt wurde/wird um ihre Auffassungen von notwendigen Veränderungen in der Piratenpartei zu begründen.
“…wurden gegründet von Menschen, die im Internet Musik tauschen wollten, und … sich …ausschließlich mit Themen wie Urheberrecht, Überwachung im Netz beschäftigten.”
Tatsächlich war zum Beispiel das BGE vor dem 2009er Hype bereits Teil der Piratenpartei und stand in 3 Landesprogrammen. Das war viel, den es gab keine 16 Landesverbände. Tatsache war auch das die Piratenpartei von Urheberrecht keine Ahnung hatte und sich aus diesem Thema faktisch (zumindest) medial zurückgezogen hatte. Man beachte außerdem die Beschlüsse zum Europawahlprogramm 2009, die Begründung auf der Gründungsveranstalltung 2006 zum Thema Ein-Themen-Partei sowie die spätere Umfrage und Begründung der LVs aus 2008 zur programmatischen Erweiterung. Es ist eine Legende von einer Netzpartei zu sprechen. Sie hat lediglich Anlauf genommen, Kräfte konzentriert und das auch so begründet. Aber die Diskussionen und sogar die Programme gingen darüber hinaus.
Auch möchte ich auf die weitere einem Politikwissenschaftler vermutlich abgehende Möglichkeit hinweisen, zum Thema (sinngemäß) “wenn man kein Vollprogramm hat, ist man keine politische Partei”.
Die Gründung einer Partei-Plattform als Protest zu verstehen, die sich in einer Zeit der staatlichen Kontrolle zum Selbstschutz mit den Mitteln der Freiheiten einer Partei (Vereine wie CCC, Foebud gab es schon) auszustatten gedenkt (ähnliche Freiheiten bietet die Kunstfreiheit). Sich dennoch aber nicht als Partei versteht sondern als Runder Tisch. Die Leute 89 waren auch keine Christen und sind dennoch in die Kirche gegangen. Dann bekommt übrigens auch das “Politik aus Notwehr” eine andere Konnotation. Die Vertreter dieser Idee waren davon überzeugt das es wichtig ist sich auf die wesentlichen Schwächen des Systems zu konzentrieren, dazu gehörten zumeist Demokratie, Bürgerrechte, Soziale Benachteiligungen.
Das war kein Konsens, es gab mindestens 3 “Lager”: Vollpartei, Einthemenpartei, Plattform.
Die Unterscheidung des Interviewten in Unpolitische Gründer und Gründer die bereits in einer Partei waren und ihre Themen mitbrachten, ist unzutreffend. Dafür war die Anzahl der letzteren Gruppe zu gering um sie als Gruppe zu identifizieren. Und erstere waren sicher nicht unpolitisch, jedenfalls nicht unpolitischer als ein Poltikwissenschaftler der aus der gesicherten Distanz seines Büros darüber befindet. Und ich nehme an, Herr Koschmieder ist ein politischer Mensch und sieht sich auch so.
Im Grunde ist die Analyse ja eine schallende Ohrfeige für alle Ponader-Mobber, Kernis, Links-Hasser und den neuen Buvo. Dummerweise sind von den anderen nun nur schon viele weg, und der Bürger winkt sowieso längst ab, wenn er “Piraten” hört, denn auch die politische Bilanz ist zumindest auf Landes- oder gar Bundesebene völlig unbefriedigend (etwa in NRW). Eine eigene Wahlanalyse der Misserfolge (die Lauer wollte, die sonst aber nie wirklich stattfand, war nämlich von unpolitisch bis rechten Hurra-Piraten unerwünscht, weil es ja “schlechte Stimmung” verbreitet hätte), hätte ergeben, dass die einstigen Wähler linksliberal waren, Nicht- und Erstwähler, enttäuschte junge Grünen- und Linkewähler. Und natürlich das frei fließende Stammtisch-Protest-Potential, das inzwischen bei der AfD angekommen ist. Nicht das FDP-CDU-Kientel, auf das man jetzt zielt, das hat die Piraten noch nie geählt und wird es auch in Zukunft nicht tun. Dummerweise wird es jetzt auch das linksliberale Lager nicht mehr tun. Letzte Lösung: der Umbau zur Satirepartei.
Eine nüchterne Analyse des Parteienforschers Koschmieder, die den Ist-Zustand ohne Beschönigung beschreibt. Viele Piraten haben ihren Blick durch die fortlaufenden innerparteilichen Grabenkriege so sehr auf Personen (Köpfe) verengt, dass sie gar nicht mehr in der Lage sind, inhaltlich zu arbeiten.
Die Piratenpartei hat den Schritt vom Aktivisten/Aktionsbündnis (da war sie gut, da strukturarm und dadurch reaktionsschnell) zur Partei nie geschafft. Partei sein heißt auch Position beziehen und Partei ergreifen, in für die Menschen im Land wesentlichen Politikfeldern.
Nur Netzpolitik bedeutet, man schafft es nie wieder in Parlamente, allenfalls mit einzelnen Piraten in Kommunalvertretungen, in denen Netzpolitik Nebenthema ist.
Sich breiter aufzustellen heißt, einen gewissen Grundkonsens zu wesentlichen gesellschaftliche Fragen zu erarbeiten, und das kann nur verwirklicht werden, in dem man sich Strukturen schafft, in denen dies eben auch möglich ist.
Die Vielfältigkeit in der Partei wird dann, genau so wie in den Volksparteien, zu einer recht weichgespülten Konsensmilch gerinnen, wie es im Programm der Piraten ja auch schon verschiedentlich ablesbar ist. Das ist für Wähler wenig attraktiv, denn das bieten die anderen Parteien auch.
Etwas künstlich aufzupfropfen, nur weil es Erfolg beim Wähler verspricht, funktioniert nicht. Der Wähler hat ein sehr sensibles seismographisches Gefühl dafür, ob etwas selbst gewollt oder nur aufgesetzt ist.
Ich würde für einen größere Entspanntheit und ein strukturiertes Miteinander der verschiedenen Strömungen plädieren. Piraten in einer Großstadt sind anders zusammengesetzt und können andre Themenschwerpunkte setzen wie auf den flachen Land.
Auf Bundesebene, also übergreifend, sollten die Piraten zu ihrem Kernthema Netzpolitik, Datenschutz und Bürgerrechte die jeweiligen anderen Politikfelder darum herum gruppieren, also sich in der sozialen Frage an den Grundsätzen der sozialen Sicherung und gesellschaftlicher Teilhabe orientieren.
So lange der Streit in der Partei als Suche nach dem schwarzen Peter fortgesetzt wird, verlieren alle Beteiligten.
Alle historischen Beispiele zeigen auch, dass eine Spaltung der Aus-/Neugründung keine Lösung sind. Abspaltungen sind zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Mit Spaltern will niemand etwas zu tun haben, denn sie spalten vielleicht ja auch ein zweites Mal. Und Streithansel wählt auch niemand, denn in der Politik ist Zusammenarbeit in Sachfragen und inhaltlicher Streit um die bessere Lösung gefragt, aber kein personenbezogener oder lagerorientierter Grabenkrieg.
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