Ein Gastartikel von Thomas Köhler
In der Piratenpartei gibt es seit längerem Diskussionen über die politische und inhaltliche Ausrichtung. Unter dem Hashtag #reclaimyourNetzpartei sammeln sich Basismitglieder, die eine „Rückkehr zu den Wurzeln“ der Netzpartei fordern. Gibt es diese Wurzeln wirklich, oder sieht jede/r seine/ihre Wurzeln auf eigene Art und Weise?
Ich bin, ehrlich gesagt, erst spät auf die Piraten als politische Partei aufmerksam geworden, das muss so gegen 2011 gewesen sein. Bis dahin hatte ich sie als eine Versammlung von Nerds und Hackern wahrgenommen, als eine Art Kommune 1 des Internetzeitalters. Die Themen Streaming von Filmen, freie Musik aus dem Internet und ähnliches interessierten mich wenig. Aber irgendwann kam mir die Idee, dass sie einen Gegenentwurf zum kommerziellen „Internet of things“ – ein „Internet of people“ forderten. Eine globale Vernetzung von Menschen, die sich den Herausforderungen des Internetzeitalters stellen. Hier vernetzen sich Menschen verschiedener Meinungen und Interessen und sollten diese präsentieren und diskutieren.
Sie waren und sind für mich Rebellen gegen verkrustete politische Strukturen, die ohne Beschränkungen durch ideologische Dogmen eine neue Politik fordern. Transparent sollte diese Politik sein und eine hohe Bürgerbeteiligung sollte erreicht werden. Unpolitisch sah ich sie nie, ich sah sie immer im linken Spektrum. Allerdings auf eine erfrischend neue Art.
Ich wäre der Partei nicht beigetreten wenn sie in der Bundestagswahl 2013 über 5% gekommen wäre. Nicht weil ich die parlamentarische Arbeit ablehne, sondern weil das den Eindruck des „Aufspringens auf die Welle des Erfolgs“ gehabt hätte. Aber als der Einzug in den Bundestag nicht erreicht wurde stellte ich den Aufnahmeantrag – da bin ich nun, ich kann nicht anders. Und ich bin mitten in einem dogmatisch fundamentalistischen Streit um die politische Ausrichtung gelandet.
An der Stelle sei mir gestattet „meine Netzpartei“, der ich hoffte beizutreten, vorzustellen:
- Meine Netzpartei betrachtet und braucht das Internet, als die demokratischste und freieste Kommunikationsplattform.
- Meine Netzpartei ist die Partei, die dafür eintritt, dass diese Demokratie gewahrt wird.
- Meine Netzpartei wehrt sich gegen Überwachung, Datensammlung und die Nutzung dieser Daten für undemokratische Zwecke.
- Meine Netzpartei tritt ein für Menschenrechte – für jede/n und überall.
- Meine Netzpartei tritt ein für einen freien Gedankenaustausch – über Länder- und ideologische Grenzen hinweg.
- Meine Netzpartei hat Mitglieder und Sympathisanten aus allen Schichten, die Menschenrechte für jede/n und überall vertreten.
Diese meine Netzpartei, die ich nicht reklamieren kann, hat eine linke Ausrichtung. Sie lässt keinen Spielraum für Rassismus, Homophobie, Antifeminismus und Ähnliches. In ihr haben weder Nazis noch Stalinisten Platz.
Hier wäre meines Erachtens nach ein Minimalkonsens: Menschenrechte für alle und überall.
Auf der Grundlage kann man diskutieren, für mich gilt da mein Blog-Motto. Ob nun von Voltaire oder wie manche behaupten von Descartes, es lautet:
„Ich mag verdammen, was Du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass Du es sagen darfst.“
Aus heutiger Sicht ist mein größtes Problem, dass wir in der freiheitlichsten und demokratischsten aller Parteien anfangen Meinungen zu zensieren, Menschen wegen dieser Meinungen auszuschließen und eine dogmatische und fundamentalistische Einheitsmeinung zu fordern – das ist der Weg in eine Gesinnungs-Diktatur. Der Weg ins Establishment der Altparteien. Da wollten wir doch nie hin.
Der, oft in der sinnentstellenden Verkürzung verwendete, Ausspruch von Rosa Luxemburg schildert dieses Problem treffend.
„Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der »Gerechtigkeit«, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die »Freiheit« zum Privilegium wird.“ [1]
Ehrlich, wer kennt heute noch mehr als den ersten Satz? Wer hat schon mal darüber nachgedacht, dass Recht haben um jeden Preis eben jenes Privilegium darstellt? Überwachung des Internets beschädigt die Demokratie des Internets – Gesinnungs-Überwachung meiner Netzpartei beschädigt den Grundsatz der Demokratie meiner Netzpartei.
Wie ist das eigentlich in eurer Netzpartei so?
[1] Rosa Luxemburg, Die russische Revolution. Eine kritische Würdigung, Berlin 1920 S. 109; Rosa Luxemburg – Gesammelte Werke Band 4, S. 359, Anmerkung 3 Dietz Verlag Berlin (Ost), 1983( zitiert nach wikiquote)
Kommentare
12 Kommentare zu Meine Netzpartei
Mit “Menschenrechte für alle und überall” bist Du (wie ich auch) bei @thecitizen_de : http://de.thecitizen.de/2013/09/30/wofuer-stehen-die-piraten-menschenrechte-fuer-alle/ , und der wird als einer der bösen Linken gehandelt, von denen man sich als #Netzparteireclaimer distanzieren soll (interessanterweise hat noch kein Kerni eine Distanzierung vom Linksextremisten G. Orwell gefordert).
Orwell ein Linksextremist? Wikipedia schreibt dazu:
Zum Thema Linksextremismus zitiert Wikipedia wiederum den Verfassungsschutzbericht des Jahres 1975:
Bei Georg Orwell klingt in seiner Kürze nach einem Vordenker Willy Brandts, beim Extremismus eher nach auf Botschaften geworfene Molotowcocktails.
Wie ist das eigentlich in eurer Netzpartei so?
https://buvo13.piratenpad.de/2014-04-10-Bundesvorstandssitzung?
so kann man auch noch den letzte rest der poratenethik Ionisieren. so etwas armseliges/unprofessionelles haben wir noch von keinem und nirgendwo erlebt.
und wo wir hier schon mal dran sind:
zu 155:
wann, wo und wie wird nun endlich das mehrfach angeforderte Schreiben an die Botschaft der russischen Konföderation und das Antwortschreiben seine Exzelenz des Botschafters veröffentlicht???
Wir bedanken uns schon einmal im Voraus auf die bestimmt erfolgende Antwort.
Moin Ralf, ich meine “Menschenrechte für alle und überall” genau so wie ich es geschrieben habe – als Minimalkonsens. Wer diese fordert, der kann kein Nazi sein – ist wohl logisch. Er kann aber auch kein Anhänger einer wie auch immer gearteten Diktatur sein, da diese ja generell Menschenrechte beschneiden. Als Minimalkonsens reicht mir das – so einfach. Moin Grafenburger, Schade, ich meinte Deine persönliche Netzpartei – die Probleme der Piratenpartei kenne ich auch.
Einteilung in links, rechts und Mitte halte ich bereits für falsch. Das ist Schubkastendenken. Wir müssen die politischen Probleme emotionslos analysieren und dann die optimalen Lösungen dafür entwickeln. Jede wie immer gefärbte Ideologie ist dafür nur ein grosses Hindernis, denn Ideologien versuchen immer, komplexe Sachverhalte sehr stark zu vereinfachen und sie behaupten ausserdem, dass nur sie die richtige Lösung kennen. Und wegen dieses Anspruchs entwickeln sich alle Staaten, deren Regierungen durch Ideologien oder Religionen geprägts sind, innerhalb weniger Jahre zuerst in eine autoritäre und später in eine diktatorische Regierungsform. Beispiele dafür: Russland, Ungarn, Türkei etc. Deshalb stört es mich bereits, wenn die Piratenpartei als linksgerichtet tituliert wird, denn das würde bedeuten, dass sie nicht fähig sein, die politischen Probleme zu lösen.
Demokratie?! Menschenrechte?!
Zumindest behauptet das jede Partei von sich, nicht nur in Deutschland. Der Russische Präsident Putin sagt das auch. Der Amerikanische Präsident hält Demokratie in seinem Land für selbstverständlich. Offensichtlich hat jeder seine eigenen Vorstellungen von Menschenrechten und Demokratie. Das macht die Sache nicht einfacher. Geht man erstmals davon aus, dass jeder der das von sich behauptet, verschiedene Interessen damit verbindet. Dass viele verschiedene politische unumgängliche Entscheidungen, damit abgeglichen werden müssen. Dass dann danach Menschenrechte und Demokratie mit den notwendigen Entscheidungen abgewogen sind.
Ob ein Land die Voraussetzungen für Demokratie und Menschenrechte erbringen kann, hängt nicht zuletzt auch davon ab, ob das Finanzierbar ist. Ist es vielleicht eine politische Sichtweise, die Demokratie und die unabweisbare Garantie für Menschenrechte realisieren kann?!.
Wenn man die Geschichte zurück geht, könnte man eine evolutionäre Entwickelung damit schon eher verbinden. Mit Sicherheit ist es eine Bewusstseinsfrage, das richtige zu Glauben und das Erkannte umzusetzen. Kriege werden nur als falsch eingeschätzt, nachdem sie beendet sind. Meist auch nur von dem unterlegenen.
Der Mensch muss das Richtige erkennen und danach streben. Wann Ziele erreichbar sind, ist nicht vorhersehbar. Ebenso wenig, wann die Piratenpartei so viele Wähler auf sich vereinen kann, dass sie in den Bundestag einzieht. Es war auch deutlich erkennbar, dass innerparteiliche Fehlbesetzungen und Querelen zu Verluste der Glaubwürdigkeit geführt haben. Eine innere Zerrissenheit führt in der Öffentlichkeit sofort zur Verunsicherung. Eine Partei muss in erster Linie gemeinsam auftreten können.
Soweit ich Weiß gibt es ein Potenzial von ca. 30 % unzufriedenen Bürger die nicht wählen. Oft kann man hören, dass sie nicht gewählt hatten, weil sie wahrscheinlich aus den verschiedensten Gründen, von keiner Partei überzeugt werden konnten. Das hängt auch damit zusammen dass letztens, allgemeine Eigeninteressen beim Bürger vorrangig sind.
Wie will die instabile Piratenpartei die Rentner überzeugen, dass wenn sie in die Regierung kämen, die Renten „ dennoch sicher sind“? Das sind ganz pragmatische Fragen, die den Bürger zu Entscheidungen kommen lassen. Ebenso wie die Frage: Was haben Demokratie und Menschenrechte für den Konzernchef und seine Erfolge gemeinsam, der mit täglicher Produktivität und Gewinnmaximierung am Ende des Tages, getrieben von der Konkurrenz aus Asien, oder Staaten in denen Diktaturen zum Leitbild gehören. Für die, Arbeitsbedingungen keine Rolle spielen. In dem Kontext Anlass haben sollte, die Piratenpartei zu wählen?!
Hallo aufwachen, es gibt viel zu tun. Wir Träumen alle vom 6er im Lotto. Auch von Demokratie und Menschenrechte. Trotzdem habe ich und werde die Piraten weiter wählen, denn sie sind aus dem heraus um so wichtiger. Sie sind die neue Generation, die aus einer fernen politischen Evolution kommt.
@Thomas: Mein Sarkasmus richtete sich nicht gegen Dich, sondern die, die dauernd #reclaimyournetzpartei schreien und eine “Entrümpelung” des Programms von Menschenrechtsthemen fordern. Und dann gibt es Leute, die ich sehr schätze, die aber auf Twitter herumranten und den Hashtag verwenden, obwohl sie selbst Menschenrechtsaktivisten sind.
@Michael: Ich habe lange überlegt, ob ich “Linksextremisten” (das Wort “Extremismus” ist IMHO Bullshit) in Anführungszeichen setze oder nicht – wie ich sehe, war meine Entscheidung falsch (Theorie: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2011-11/schroeder-extremismus-kommentar/komplettansicht , Anwendung im LV SN: https://wiki.piratenpartei.de/SN:Dokumente/Grundsatzprogramm#Ablehnung_des_Extremismusbegriffs ). Orwell kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der POUM, die die von den Stalinisten und anderen vertretene Linie der Volksfront ablehnte und mitten im Kampf eine Front gegen die bürgerlichen, sozialistischen und kommunistischen Verbündeten aufmachte, um eine zu der Zeit chancenlose Revolution zu starten (siehe https://en.wikipedia.org/wiki/George_Orwell#The_Spanish_Civil_War und https://en.wikipedia.org/wiki/Barcelona_May_Days – nimm die enhanced Wikipedia (en.wikipedia.org), der depublizierten (de.wikipedia.org) fehlt vieles). Ergebnis: 500-1000 sinnlos gefallene Tote und freie Bahn für Franco. Wenn es einen sinnvollen Inhalt für den Begriff “Linksextremismus” gäbe, dann wohl das. Nach dem Krieg schrieb er dann “Animal Farm” und “1984” und bekannte sich zum demokratischen Sozialismus.
@Ralf Muschall: in dem mehrfach preisgekröntem Film “Land And Freedom” ,der sich an Orwells Berichte orientiert, wird das anders dargestellt. Die POUM wurde durch die Stalinisten angegriffen. Es waren die Stalinisten die alle Nicht-Stalinisten auf republikanischer Seite ausschalten wollten um eine Diktatur sowjetischer Bauart zu errichten.
Zur Diskussion insgesamt: Seit innerhalb der PP das Prinzip “jede noch so linke Position läßt sich noch links überholen und wer das schafft ist der bessere Mensch und ist für Positionen geeigneter” gilt, haben karrieristen und (echte und angepasste) Linksradikale freie bahn. Diese Art der machteroberung ist uralt (Robespierre usw. ), im Namen des “Guten” darf man alles tun.
@Ralf (not Muschall) “Im Namen des ‘Guten’ darf man alles tun.” damit habe ich eben auch meine Probleme, siehe Kasten mit Vorstellung. Ich ziehe da immer das unsägliche Lied aus meiner Kindheit als Beispiel heran: “Und wer kämpft für das Recht, der hat immer recht.” [1] War schon damals falsch und wird auch heute nicht besser. Diese Einstellung ist dogmatisch und undemokratisch. [1] http://www.hdg.de/lemo/html/dokumente/JahreDesAufbausInOstUndWest_liedtextSEDLied/
http://www.gefiont.de/2014/04/genug-ist-genug.html
seid wann ist im richtigen leben die entscheidung einen vorstand zu entlasten eine emotionale sache? endweder hat er KORREKT gearbeitet, dann muss er entlastet werden, oder nicht, dann DARF er nicht entlastet werden.
so einfach ist das.
die frage ob es “nette mädchen” sind oder mitleid verdienen – stellt sich nicht.
entscheidungen haben logisch nachvollziehbar zu sein und sich an reinen fakten zu orientieren. punkt basta.
@Ralf [der, der nicht ich ist ;-)]: Ich kenne den Film nicht, habe nur eben https://en.wikipedia.org/wiki/Land_and_Freedom gelesen. Deine Darstellung beißt sich allerdings etwas mit der offiziellen Geschichtsschreibung – laut letzterer waren es die Stalinisten, die im Bürgerkrieg den Kapitalismus schonen wollten und die “Trotzkisten und Anarchisten”[0], die eine sofortige Revolution wollten (Bürgerkrieg im Bürgerkrieg). Wer im inneren Kampf dann fieser war, kann ich mangels objektiver Daten nicht sagen, traue es den Stalinisten aber zu.
@viele hier: Das mit den “Guten” und was sie dürfen sehe ich etwas sehr anders. Erstens pflege ich zu sagen “Wir sind die Guten, deswegen dürfen wir $X nicht“. Zweitens stimme ich mit @mspr0 überein, wenn er sagt “Die Bösen existieren nicht” – damit werden vielerlei $X gegenstandslos. Die Idee ist nicht von ihm – schon bei Sokrates und @carridwen (Querfrontvortrag – Audiofile irgendwo im #DE-Archiv) findet man den Gedanken, aber seine Formulierung gefällt mir am besten.
[0] In Anführungszeichen, weil die Bezeichnungen Zuschreibungen der Gegenseite sind und ich nicht genug Informationen habe, ihre Positionen inhaltlich zu überprüfen.
Netzpartei? Als solche eine Riesenenttaeuschung. Nee, eine www-Partei, eine Internet-ist-ein-Riesen-Kommerz-Partei.