Ein Gastbeitrag von Stefan Münz
Ein scheinbar unbedeutender Streit innerhalb der Piratenpartei ist in Wirklichkeit eine Herausforderung an unser Demokratieverständnis. Da sind alle gefordert.
SMV steht für „ständige Mitgliederversammlung“ und ist ein Konzept innerhalb der Piratenpartei, das für eine bessere Abstimmung zwischen Abgeordneten und Basis sorgen soll – eine Art beschlussfähiger Dauerparteitag, und zwar online. Eigentlich, sollte man meinen, für die Piraten die normalste Sache der Welt. Doch weit gefehlt – die Orangen tragen erbitterte Kämpfe deswegen aus. Marina Weisband hat beispielsweise ihr weiteres Engagement für die Partei davon abhängig gemacht, dass dieses Instrument eingeführt wird. Andere, wie der Parteivorsitzende Sebastian Nerz, argumentieren dagegen.
Der Zankapfel, um den es bei der Sache geht, hat mit einer „systembedingten Eigenschaft“ jeder Art von Online-Demokratie zu tun. Denn diese erfordert – zumindest der Software gegenüber – den Verzicht auf einen Grundpfeiler unseres heutigen Demokratieverständnisses: nämlich das Prinzip der geheimen Wahl. Multi-User-Webanwendungen, denen es nicht egal ist, welcher Benutzer was genau tut, benötigen immer irgend eine Art von Authentifizierung. Damit wissen sie aber auch immer, welcher Benutzer was genau tut. Und selbst wenn sie es selber so schnell wie möglich wieder vergessen möchten: in die Datensätze, die sie in ihre Datenbanken schreiben, müssen sie doch wieder die Benutzerzuordnung schreiben. Sonst könnten sie einem angemeldeten Benutzer nicht einmal auflisten, an welchen Abstimmungen er sich beteiligt hat, oder wie er sich bei der Abstimmung verhalten hat. Und Liquid-Democracy-Verfahren wie Delegated Voting, also das Delegieren der eigenen Stimme in einer bestimmten Abstimmung an eine andere Person oder Partei, die in dieser Frage die gewünschte eigene Position vertritt, wäre ebenfalls nicht möglich.
Kurzum: wer Online-Demokratie, Liquid Democracy und all das will, und sei es auch nur, um es erst mal innerhalb einer netz-affinen politischen Partei auszuprobieren, muss sich vom Prinzip der geheimen Wahl verabschieden. Für viele ist das aber gleichbedeutend mit einem Abschied von der Demokratie als solcher. Denn, so argumentieren sie, eine Wahl, bei der zumindest durch Auswertung von gespeicherten Daten herausfindbar ist, wer wie gewählt hat, verhindert mutige Opposition und individuelle Gewissensentscheidungen – also genau die Werte, die an Demokratien so geschätzt werden.
Letztlich müssen wir alle abwägen, wie bedingungslos wir auf dem Prinzip der geheimen Wahl beharren wollen, oder ob uns andere Dinge wichtiger sind – zum Beispiel echte Partizipation an beliebigen Entscheidungsverfahren mit Hilfe einer eigenen, frei einsetzbaren Stimme. Der Haken, um den es bei der SMV geht, und der Zankapfel, um den die Piraten da ringen, ist also alles andere als ein lächerlicher Streit in einer Kleinpartei, die von vielen immer noch nicht ernst genommen wird. Was die Piraten da austragen, ist der Kampf um das Demokratieverständnis angesichts der neuen technischen Möglichkeiten, demokratisches Abstimmen zu organisieren. Geopfert werden soll die geheime Wahl, und gewonnen werden soll damit das ständige Überallmitwählenkönnen.
Um eines noch mal zu klar zu stellen: es ist nicht so, dass zwangsweise am Bildschirm steht: „dies ist das Profil von Emma Müller aus Vorderzarten. Emma Müller hat bei folgenden Abstimmungen teilgenommen und dabei wie folgt abgestimmt“. Aber es ist so, dass die Software, die all das verwaltet, genau das weiß und speichert, und dass es genügt, wenn ein Administrator sein Gehalt aufbessern möchte, indem er gewünschte Datenbankexzerpte an Interessenten verkauft.
Der Graben, um den es bei dem von außen betrachtet scheinbar lächerlichen SMV-Gezänk geht, ist also in Wirklichkeit einer der tiefsten und am wenigsten reflektierten Gräben, die derzeit durch die Bevölkerung gehen. Er hat letztlich zahlreiche andere Aspekte, die vordergründig nichts mit Online-Demokratie zu tun haben. Der Klarnamenzwang in vielen Social Networks beispielsweise, oder die Debatten rund um Google Streetview. Die meisten Menschen fordern einen transparenten Staat, eine transparente Industrie, aber selber möchten sie geheim wählen und in höchstem Maße unidentifizierbar sein. Gerade die Piraten fordern gerne beides. Doch bei einer Online-Demokratie wird letztlich auch der Bürger transparent. Und genau deswegen sind die Auseinandersetzungen so heftig. Die Diskussion dreht sich also letztlich darum, ob unsere tradierten Vorstellungen von Demokratie und Privatsphärenschutz als erstrebens- und erhaltenswert oder als nicht mehr zeitgemäß und unlogisch zu bewerten sind.
Ein harter Brocken also, den die Piraten da verhandeln. Wer möchte, kann sofort an der Verhandlung teilnehmen. Aber nur unter den Bedingungen der Online-Demokratie: https://lqfb.piratenpartei.de/
Kommentare
12 Kommentare zu SMV oder der Haken der Online-Demokratie
Man kann die Frage auch noch anders formulieren: Bin ich in meiner Parteitätigkeit ein Bürger oder ein Politiker? Transparente Politiker fordern wir ja gerne, aber ab wann gehört man zu dieser erlauchten Gruppe? Als Vorstand eines Kreisverbands? Als Bundespressesprecher? Oder eben schon, wenn man über das Programm einer politischen Partei mitbestimmen möchte?
Diejenigen die gegen Klarnamen sind wissen auch warum! Es hat sich bereits oft genug gezeigt das sich immer wieder Individuen finden, die ihre Meinung auch mit Gewalt durchdrücken wollen. Klarnamen werden nicht für die Nachvollziehbarkeit benötigt, sonder für Repressalien gegen Leute die meine Meinung nicht teilen.
Dies Zeigt sich doch schon durch das Verlangen von einigen Gruppierungen innerhalb der Partei, die Partizipation an der Meinungsbildung in LQFB nur mit Klarnamen zulassen zu wollen.
Diese Entwicklung ist Besorgnis erregend, da sie Zeigt mit welchen mitteln einige Individuen versuchen ihre Macht zu vergrößern.
Das ein System auch ohne KlarNamen auskommen kann ist bekannt, entspricht nur nicht den wünschen der Verfechter der Klarnamenspflicht.
Die Frage die viel mehr im Mittelpunkt stehen sollte ist wollen wir Demokratie 2.0 oder Demokratur 3.1.
Die Forderung die Grundlagen der Demokratie abzuschaffen weil es angeblich anders nicht ginge eine online Abstimmung zu machen ist untragbar. Das wir es dank dieser Leute nicht mal schaffen ein Meinungsbildungstool in der Partei zu schaffen sei mal so mit eingeworfen.
Solange Wir menschen haben die sich durch Macht korrumpieren lassen dürfen die Grundsätze der Demokratie nicht verworfen werden.
Ich bin durchaus Für eine SMV, aber nicht zu den Falschen Bedingungen.
Ich hab den Bundesparteitag verfolgt, das ganze Gezerre um “SMV” und finde: es ist NICHT allein der von Dir angesprochene Punkt der nicht-wirklich-geheimen Wahl, der ein Ergebnis in Sachen SMV verhindert hat! Sondern die vielen Anträge, die jeweils viel zu spezifisch waren, so dass sich letztlich keiner als 2/3ter-mehrheitsfähig erwiesen hat, sowie die viel zu kurze Zeit, die dem Thema gegeben war – eine ungeniale Parteitags-Regie, wenn man so will.
Zum Thema “geheim”: Die meisten Abstimmungen auf Parteitagen sind NICHT geheim, sondern erfolgen durch offenes “Karte heben”. Was stünde also dem entgegen, zumindest solche, konsensuell nicht geheimen Beschlussverfahren online abzuwickeln?
Wenn dann eine bestimmte Anzahl der Teilnehmenden eine “Geheime” verlangt, muss man halt ergänzend zur dezentralen Urnenabstimmung schreiten. Warum nicht?
Zum ganzen Vorgehen hab’ ich mich nur gewundert! Warum machen die Piraten das nicht so, wie es ansonsten in Aktiven-Gruppen üblich ist, wenn es darum geht, Mittel und Methoden zur Erreichung von Zielen zu bestimmen? Nämlich alle Erfordernisse/Wünschbarkeiten sammeln, einzeln (!) diskutieren und abgestimmen, bis ein “Pflichtenheft” für das künftige Abstimmungsverfahren steht:
-> ständig oder regelmäßig? -> per Klarnamen, per Pseudonym, bzw. unter welchen Umständen anonym (=Urne)? -> darf delegiert werden oder nicht? Wenn ja, wie? -> Soll ein vorhandenes Tool verwendet werden oder braucht es etwas Neues?
etc. usw. (Ich steck als “Sympatisantin” nicht so in den Details, um alles auflisten zu können). Für die Diskussion aller Punkte wäre ein extra Bundesparteitag kein zu großer Aufwand! Es geht um ein Kernthema, um die Organisation von Teilhabe – und zudem würde der Stress und die Konkurrenz zu anderen wichtigen Themen (und jede Menge GO-Trollerei) gar nicht erst auftreten.
Am Ende könnte evtl. auch noch eine Urabstimmung aller Mitglieder über das vom BPT erarbeitete/abgestimmte Modell stehen. Demokratischer gehts nicht…
Aber nochmal zum Knackpunkt dieses Artikels: auf mich wirkt dieses Bedürfnis nach Anonymität bei politischen Beschlüssen schon etwas seltsam. Man geht doch auch auf eine Demo und “zeigt Gesicht”, macht bei Petitionen mit und bloggt, was man denkt – warum auf einmal diese Scheu bei “innerpiratischen” Parteitagsbeschlüssen?
Verfahrenstechnisch lässt sich das aber immerhin bewältigen – siehe oben.
Hallo Claudia, genau so ein Verfahren namens “Basisentscheid” wurde bereits incl. entsprechender “Geschäftsordnung” relativ unbemerkt von der Presse vom BPT beschlossen http://www.piratenpartei.de/2013/05/16/piraten-fuhren-online-abstimmungen-ein/ Es legt sich jedenfalls schon mal auf regelmässige Abstimmungen, ohne Delegation, ohne Klarnamen, und pseudonyme Onlineabstimmung mit Recht auf geheime Urnenabstimmung (bei Wahlen Pflicht) fest. Damit kann dann auch über weitere Änderungen abgestimmt werden.
Tja, wieder so ein irritierendes Erlebnis:
“Flaschenpost – das Nachrichtenmagazin der Piratenpartei” heißt das hier!
Aber Diskussion findet offenbar kaum statt.
“Denn, so argumentieren sie, eine Wahl, bei der zumindest durch Auswertung von gespeicherten Daten herausfindbar ist, wer wie gewählt hat, verhindert mutige Opposition und individuelle Gewissensentscheidungen – also genau die Werte, die an Demokratien so geschätzt werden.”
Wer nicht zu seiner Wahl steht, ist bestimmt kein mutiger Oppositioneller. Fröhlich grinsend allen beizupflichten und dann die Abstimmung anonym zu torpedieren nenne ich nicht mutig. Wenn wir zu einer echten Demokratie kommen wollen, sollte keiner Angst haben, sich für etwas zu entscheiden. Schließlich kann man seine Meinung auch ändern, falls man zum Schluss kommt, dass man jetzt mehr weiß als vorher (Adenauer meinte mal, “Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern!?”).
Oben erwähnt ist Opposition in gefährlicher Umgebung, wenn man Angst haben muss, die Kehle aufgeschlitzt zu bekommen oder im Gulag zu landen. Da sollte man aber besser kein Mitglied der Piratenpartei sein – ist schon verdächtig genug.
Ich war leider nicht beim Parteitag dabei und bin nicht wirklich in der SMV-Materie drin, aber so wie ich das einschätze, sollte eine anonyme Online-Wahl doch möglich sein. Die Nutzerinformationen könnten schließlich mit den Nutzerpasswort verschlüsselt sein und somit nicht vom Admin lesbar. Wenn der Pirat nun abstimmt, wird in seinem Konto verschlüsselt abgespeichert, dass er schon gewählt hat, aber diese Info wird nicht mit der Stimme verbunden, die er abgegeben hat. Trotzdem kann er ab sofort keine weitere Stimme abgeben. Dann gibt es ja noch die Diskussion, ob man Anonymität überhaupt will, aber ich wollte nur einmal gesagt haben, dass sich Anonymität und SMV nicht ausschließen müssen!
Der Artikel ist schlicht falsch. Für das korrekte Arbeiten der Software wäre nur eine eindeutige Identifizierung jedes Benutzers nötig (z.B. eine eindeutige Nummer), nicht eine Offenlegung seiner Identität. Ein “Administrator der sein Gehalt aufbessern will” könnte also nur weitergeben wie ein gewisser AZB3492 abgestimmt hat. Das ist keine Aufhebung des Wahlgeheimnisses.
Das Problem ist, das in einem solchen System das Recht zur Nutzung sowohl erteilt als auch entzogen werden muss – abhängig vom Status der Mitgliedschaft. Damit muss der Nutzer zumindest bei der Erteilung identifizierbar sein, uns selbst bei einem automatischem Ablauf muss er – z.B. bei Parteiausschluss, Austritt oder Tod – auch vorzeitig ausgeschlossen werden können.
Im Artikel steht “Geopfert werden soll die geheime Wahl” Das ist falsch. Denn konzeptionell sieht keiner, wie eine bestimmte Person abgestimmt hat. Per Straftat kann dies aber u.U. ermittelt werden, das ist schon richtig. Allerdings kann durch Anbringen einer versteckten Kamera in einer Wahlkabine ebenfalls das Wahlgeheimnis verletzt werden, trotzdem spricht man bei einer Bundestagswahl nicht davon, dass das Wahlgeheimnis “geopfert” wurde.
Im Artikel steht ebenfalls “dass es genügt, wenn ein Administrator sein Gehalt aufbessern möchte, indem er gewünschte Datenbankexzerpte an Interessenten verkauft”. Das stimmt so nicht. Zwar ist richtig, dass eine Person zumindest bei der Erteilung und beim Ausschluss identifizierbar sein muss. Dies kann aber bei einer zweiten, unabhängigen Stelle geschehen, z.B. bei einem Notar. Diese zweite Stelle kennt dann zwar die Identifikationsnummer, aber nicht die Abstimmungsergebnisse. Bei der ersten Stelle ist es umgekehrt, sie kennt die Abstimmungsergebnisse, aber nicht die Realnamen. Ein Administrator müsste sich also mit dem Notar zusammentun, den er aber noch nicht einmal kennt.
Fazit, mit erheblicher krimineller Energie und mit zwei Gesetzesverletzern, die zueinander finden lässt sich theoretisch herausbekommen, wie ein bestimmter Mensch gewählt hat; dies ist aber nur ein “Restrisiko”, nicht eine neue Haltung zur geheimen Wahl.
Pingback: Franzosen starten vielversprechendes Experiment direkter Demokratie | Flaschenpost
Pingback: Franzosen starten vielversprechendes Experiment direkter Demokratie | Kreisverband Rostock
Es können keine neuen Kommentare mehr abgegeben werden.